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Vergiss mein nicht

Vergiss mein nicht

Titel: Vergiss mein nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Slaughter
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ihr geschehen war. Sie wussten, dass man sie entführt und vergewaltigt hatte. Sie hatten aus der Zeitung sämtliche Einzelheiten des Verbrechens erfahren. Sie hatten ihre Genesung und ihre Heimkehr aus dem Krankenhaus verfolgt, wie sonst nur Fernsehserien und Footballspiele. Lena konnte nicht einkaufen gehen, ohne dass jemand versuchte, einen Blick auf ihre Narben zu werfen. Sie konnte nicht unter Menschen gehen, ohne dass jemand einen traurigen und mitfühlenden Blick für sie übrig hatte. Als könnten sie verstehen, was sie durchgemacht hatte. Als wenn sie wüssten, was es hieß, sich erst stark und unbesiegbar und dann, von einem Moment zum anderen, absolut hilflos und ohnmächtig zu fühlen. Und es zu bleiben.
    Die Türen der Kirche waren geschlossen, um die Hitze auszusperren und die kalte Luft im Innern zu halten. Lena und einer der Diakone fassten gleichzeitig nach dem Türgriff, und ihre Hände berührten einander. Sie zuckte zurück, als seien es glühende Kohlen. Dann wartete sie mit gesenktem Blick darauf, dass die Tür geöffnet wurde. Sie ging durch die Vorhalle in die Kapelle hinein, den Blick unentwegt auf den roten Teppich und dann auf die weiße Balustrade um das Gestühl geheftet, damit nur niemand auf die Idee kam, sie anzusprechen.
    Die Kapelle war nach Baptistenmaßstäben einfach ausgestattet und klein, angesichts der Größe der Stadt. Aber die älteren Leute gingen in die Primitive Baptist Church in der Stokes Street und füllten dort auch die Klingelbeutel. Die Crescent Baptist Church war knapp dreißig Jahre alt, und in ihrem Untergeschoss wurden Single-Partys veranstaltet, Ratgeberabende für frisch Geschiedene und Treffen für Alleinerziehende. In dieser kleinen Kirche war nicht die Rede von einem rachsüchtigen Gott. Die Predigten handelten von Vergebung und Liebe, von Wohltätigkeit und Frieden. Pastor Fine schalt die Mitglieder seiner Gemeinde niemals wegen ihrer Sünden, und er drohte ihnen auch nicht mit Hölle und Fegefeuer. Sein Gotteshaus war ein Ort der Freude, wie es im Mitteilungsblatt hieß. Lena wunderte sich nicht, dass Hank sich diese Gemeinde ausgesucht hatte. Auch seine AA -Treffen wurden hier im Untergeschoss abgehalten, gleich neben dem Beratungszimmer für Teenager, die Nachwuchs erwarteten.
    Lena setzte sich ziemlich weit nach vorn, weil sie wusste, dass Hank für seine sonntägliche Dosis Vergebung gern in der Nähe des Pastors war. Dave Fines Ehefrau und die beiden Kinder saßen direkt vor ihr, drehten sich aber glücklicherweise nicht um. Lena schlug die Beine übereinander und strich ihre Hose glatt, bis sie bemerkte, dass eine Frau vom anderen Ende der Kirchenbank ihre Hände anstarrte. Lena verschränkte die Arme und sah hinauf zur Kanzel. Sie stand genau in der Mitte, und zu beiden Seiten verteilte sich fächerartig das mit Samt bezogene Gestühl. Dahinter befand sich die Empore für den Kirchenchor, und seitlich stand die Orgel, deren Pfeifen die Wand emporstrebten. Sie glichen der Befestigung eines Forts. Im Zentrum all dessen befand sich Jesus, die Arme ausgebreitet, die Füße gekreuzt.
    Lena sah absichtlich weg, als Hank neben ihr auf die Kirchenbank rutschte. Sie schaute auf die Uhr. Der 9-Uhr-30-Gottesdienst würde bald beginnen. Er würde eine Stunde dauern, und die anschließende Sonntagsschule noch einmal eine halbe Stunde. Sie würden um 11 Uhr wegfahren und am Waffle House an der Route 2 halten, wo Hank zu Mittag essen und Lena bei einer Tasse Kaffee ausharren würde. Gegen zwölf wären sie dann zu Hause. Lena würde sauber machen und anschließend an ein paar Berichten arbeiten. Um 13 Uhr 30 erwartete man sie auf dem Revier zu einer Lagebesprechung des Jenny-Weaver-Falls. Das dauerte ungefähr drei Stunden, wenn sie Glück hatte, und danach konnte sie schon nach Hause fahren und das sonntägliche Abendessen improvisieren. Schließlich der abendliche Gottesdienst, auf den irgendein Chorkonzert folgen sollte, das ungefähr bis halb zehn dauern dürfte. Wenn sie danach wieder nach Hause kamen, war Lenas Bettzeit eigentlich schon überschritten.
    Sie atmete langsam aus, als sie diesen Zeitplan überdachte, und war außerordentlich erleichtert, weil ihre Stunden zumindest heute ausgefüllt waren.
    » Gleich geht’s los«, flüsterte Hank. Er nahm das Gesangbuch von der Ablage, als die Orgel ertönte. Er hantierte mit dem Buch und sagte: » Pastor Fine meint, dass du morgen nach der Arbeit bei ihm vorbeikommen kannst.«
    Lena gab vor, ihn nicht

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