Vergiss mein nicht
zurück, dass es in dem kleinen Büro laut widerhallte. Sara war kurz versucht, die Schublade nochmals zu öffnen und wieder zuzuknallen, nur um Lärm zu machen.
Beim Hinsetzen knipste sie ihre Schreibtischlampe an. Ihre verschwitzten Oberschenkel rutschten auf der Sitzfläche aus Vinyl. Es wäre klüger gewesen, die Krankenakte mit nach Hause zu nehmen. Zumindest hätte sie es dort bequemer gehabt. Aber Sara betrachtete es als eine kleine Buße, hier in der Hitze zu sitzen, um herauszufinden, was ihr über die vergangenen drei Jahre entgangen war.
Die Brille mit dem filigranen Drahtgestell steckte in der Brusttasche ihres Hemds, und einen Augenblick lang hatte Sara Angst, sie hätte sich darauf gesetzt und sie zerbrochen. Aber sie war nur leicht verbogen. Sara setzte sie auf, atmete tief durch und öffnete die Krankenakte.
Jenny Weaver war zum ersten Mal vor drei Jahren in der Klinik erschienen. Für ihre zehn Jahre hatte sie im Verhältnis zu ihrer Größe ein ganz normales Gewicht. Sie litt damals unter einer hartnäckigen Angina, die aber durch die Behandlung mit einem Antibiotikum offenbar bald geheilt worden war. Noch etwas stand dort, und nur mit größter Mühe konnte Sara ihre eigene Handschrift entziffern: Dottie Weaver war eine Woche später angerufen worden, ob Jenny auf das Medikament ansprach. Das war der Fall gewesen.
Ungefähr vor zwei Jahren hatte Jenny dann zugenommen. Das war leider in dem Alter nichts Ungewöhnliches, besonders nicht bei Mädchen wie Jenny, die ihre erste Periode schon kurz nach dem elften Geburtstag bekommen hatten. Die Kinder bewegten sich zu wenig, und sie aßen zu viel Fast Food. Hormone in Fleisch und Milchprodukten trugen das Ihrige dazu bei. In den medizinischen Fachzeitschriften wurde mittlerweile diskutiert, wie man Mädchen behandeln konnte, die bereits mit acht Jahren in die Pubertät gekommen waren.
Sara las weiter in Jennys Akte. Kurz nachdem die Gewichtszunahme einsetzte, war bei Jenny eine Blasenentzündung diagnostiziert worden. Drei Monate später war das Mädchen wegen einer Hefepilzinfektion erschienen. Soweit ihren Aufzeichnungen zu entnehmen war, hatte Sara damals nicht den geringsten Verdacht geschöpft. Im Nachhinein fragte sie sich, ob die Infektionen eventuell der Beginn eines Musters gewesen sein konnten. Sie blätterte um und achtete auf das Datum. Ein Jahr später war Jenny wieder mit einer Blasenentzündung erschienen. Ein Jahr war eine lange Zeit, aber Sara nahm ein Blatt Papier und schrieb sich die Daten auf, einschließlich der beiden anderen, an denen Jenny wegen der Angina in der Klinik gewesen war. Vielleicht teilten sich Jennys Eltern ja das Sorgerecht. Man müsste die Daten daraufhin überprüfen, ob sie mit Besuchen beim Vater übereinstimmten.
Sara legte ihren Stift beiseite und versuchte sich zu erinnern, was sie über Jennys Vater wusste. Meistens brachten sowieso die Mütter ihre Kinder in die Klinik, und soweit sich Sara entsann, hatte sie Jennys Vater nie kennen gelernt. Manche Frauen, besonders frisch geschiedene, ließen sich ungefragt über ihre Ehemänner aus, als befänden sich die Kinder gar nicht mit im Sprechzimmer. Sara fühlte sich dann immer unwohl, und gewöhnlich gelang es ihr, den Redefluss zu stoppen, bevor er richtig begonnen hatte. Aber manche Frauen sprudelten hemmungslos weiter und erzählten intime Details, die ein Kind niemals über seine Eltern wissen sollte. Dottie Weaver hatte das nie getan. Sie war zwar gesprächig gewesen und sogar manchmal schwatzhaft, aber Dottie hatte in der Klinik niemals schlecht über ihren Exmann geredet. Sara hatte jedoch vermutet, dass bei Dottie Weaver das Geld knapp war, denn sie hatte die Zuzahlungen nur sporadisch leisten können.
Sara rieb sich die Nase, und dabei rutschte ihre Brille nach oben. Sie warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Das sonntägliche Mittagessen bei ihren Eltern war für elf Uhr verabredet, und dann erwartete Jeffrey sie gegen 1 3 U hr 30 in seiner Dienststelle.
Sara schüttelte den Kopf, als wollte sie alle Gedanken an Jeffrey vertreiben. Dumpf pochende Kopfschmerzen, die vom Nacken ausgingen, erschwerten die Konzentration. Sie nahm die Brille ab und säuberte sie mit ihrem Hemdzipfel. Sie hoffte, danach etwas klarer zu sehen.
» Hallo?«, rief Sara, als sie die Tür ihres Elternhauses aufstieß. Die kalte Luft aus dem Innern bescherte ihr eine höchst willkommene Gänsehaut.
» Ich bin hier«, meldete sich ihre Mutter aus der Küche.
Sara ließ
Weitere Kostenlose Bücher