Vergiss mein nicht
sicher, dass jemand, der Selbstmord beging– gleich welcher Religion er angehörte– im Himmel nicht gerade mit offenen Armen aufgenommen werden würde.
Lena setzte sich auf den Toilettendeckel, um darüber nachzudenken. Kurz überlegte sie, ob sie noch betrunken war oder nicht. Denn nüchtern würde sie eine solche Handlung dann doch nicht in Erwägung ziehen. Oder?
Sie sah sich im Badezimmer um, das noch nie zu ihren bevorzugten Räumen im Haus gehört hatte. Die orangen Kacheln waren weiß verfugt, eine beliebte Farbkombination, als das Haus in den siebziger Jahren gebaut worden war, aber heutzutage reichlich altmodisch. Sie hatte versucht, das auszugleichen, indem sie noch weitere Farben ins Spiel gebracht hatte: eine dunkelblaue Badematte vor der Wanne, eine dunkelgrüne Hülle für den Kleenex-Behälter hinten auf der Toilette. Die Handtücher sollten die Farben miteinander aussöhnen, aber zufriedenstellend war ihnen das nicht gelungen. Dieser Raum war eben hoffnungslos. Da war es doch passend, dass sie hier starb.
Lena öffnete die Fläschchen und verteilte die Pillen auf dem Toilettentisch. Die Darvocets waren groß, die Flexeril glichen eher kleinen Pfefferminzpastillen. Mit dem Zeigefinger verschob Lena sie, bis sich die großen Pillen mit den kleinen in einer Reihe abwechselten, aber dann formte sie wieder zwei separate Häufchen. Sie nippte dabei an dem Leitungswasser und merkte, dass sie irgendwie nur ein Spiel spielte.
» Okay!«, sagte sie sich. » Die hier ist für Sibby.« Sie öffnete den Mund und warf eine von den Darvocets ein.
» Für Hank«, sagte sie und schickte eine Flexeril hinterher. Weil sie so klein waren, warf sie noch zwei weitere Flexeril ein, gefolgt von zwei Darvocets. Aber noch schluckte sie die Pillen nicht. Lena wollte die geballte Wirkung erleben, und vorher gab es noch einen Menschen, dem sie eine Pille widmen wollte.
Ihr Mund war jedoch so voll, dass der Name fast unhörbar herauskam.
» Diese hier sind für dich«, flüsterte sie fast lautlos und füllte mit den restlichen Flexeril ihren Handteller. » Diese hier sind für dich, du beschissener Dreckskerl.«
Sie schüttete sich die Pillen in den Mund und legte den Kopf in den Nacken. Mitten in der Bewegung hielt sie jedoch abrupt inne. Hank stand in der Türöffnung. Sie fixierten einander, ohne einen Ton zu sagen. Er stand mit verschränkten Armen da, die Lippen ein schmaler Strich.
» Tu es«, forderte er sie schließlich auf.
Lena saß auf dem Klodeckel, den Mund voller Pillen. Manche von ihnen hatten bereits begonnen, sich aufzulösen, und sie konnte die ätzende Schärfe des pulverigen Breis schmecken, der sich hinten auf ihrer Zunge bildete.
» Ich werde nicht den Krankenwagen rufen, solltest du das gerade denken.« Er zuckte kaum merklich die Achseln. » Nur zu, tu es, wenn du das willst.«
Lena merkte, dass ihre Zunge taub wurde.
» Hast du Angst?«, fragte Hank. » Zu viel Angst, um abzudrücken, zu viel Angst, die Pillen zu schlucken?«
Ihre Augen tränten jetzt schon von dem Geschmack in ihrem Mund, aber sie schluckte immer noch nicht. Lena war wie erstarrt. Wie lange hatte er sie schon beobachtet? War das hier eine Art Prüfung, bei der sie soeben versagt hatte?
» Mach schon!«, schrie Hank so laut, dass es von den Kacheln widerhallte. Lenas Mund öffnete sich von selbst, und sie spuckte die ersten Pillen in die Hand, aber Hank stoppte sie. Mit zwei Schritten hatte er das kleine Badezimmer durchquert und mit beiden Händen ihren Kopf in die Zange genommen. Die eine Hand lag auf ihrem Mund, die andere hielt sie am Hinterkopf, damit sie sich nicht losreißen konnte. Lena grub die Fingernägel in sein Fleisch und versuchte, seine Hand von ihrem Mund zu reißen, aber er war zu stark für sie. Sie fiel von der Toilette nach vorn auf die Knie, aber er machte die Bewegung mit und ließ dabei ihren Kopf nicht aus dem Schraubstockgriff.
» Schluck sie«, befahl Hank mit tiefer Reibeisenstimme. » Das hast du doch vor. Also tu es, schluck sie!«
Sie bewegte den Kopf vor und zurück, wollte ihm bedeuten, dass es nicht so war, dass sie es gar nicht tun wollte, dass sie es gar nicht tun konnte. Einige der Pillen rutschten ihr langsam die Kehle hinunter, und sie zog die Halsmuskeln zusammen, um das zu verhindern. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie fürchtete, es könne bersten.
» Nein?«, fragte Hank. » Nein?«
Lena schüttelte weiter den Kopf und zerrte an seinen Händen, damit er sie freigab.
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