Vergiss mein nicht (German Edition)
abgelaufen war. Seit Monaten überfällige Joghurts und Pasten reihten sich nebenverschimmeltem Meerrettich und Senf. Wahrscheinlich lag hier die Ursache für Gretels missratene Salatsoßen. In den Schränken standen noch Gewürze aus den 80er-Jahren.
Nach der Küche inspizierten wir das Badezimmer. Der Duschkopf fehlte, dafür gab es auch hier Schimmel. Besonderes Augenmerk galt Gretels Medizinschränkchen. Es war schon immer eine Marotte meiner Mutter gewesen, abgelaufene Medikamente zu behalten. Ein überschrittenes Ablaufdatum muss ja noch lange nicht bedeuten, dass ein Arzneimittel unbrauchbar ist! Doch die an sich vernünftige Skepsis war außer Kontrolle geraten. Es fanden sich zehn bis 20 Jahre überfällige Tabletten und Cremes.
Auch in Gretels Zimmer herrschte ein heilloses Durcheinander. Sie hortete alle möglichen Sächelchen, die sie vor Maltes Aufräumarbeiten in Sicherheit gebracht hatte. Ihr Bett war mit diversen Plastiktüten behängt und erinnerte an das Lager eines Obdachlosen. Auf ihrem Nachttisch bewahrte sie in Servietten eingewickelte Brotrinden auf, in einer Strickjacke fanden wir zwei Hühnereier und in einem Socken tauchten Augentropfen auf: Jahrgang 1992.
Die Versuche meines Vaters, Ordnung ins Chaos zu bringen, liefen regelmäßig ins Leere.
»Räum doch in deinem Zimmer auf!«, blockte Gretel sein Bemühen ab. »Dann kann ich hier eben auch nicht sauber machen!«, erwiderte er trotzig.
Zwischen meinen Eltern war ein Kleinkrieg ausgebrochen. Einer der zahlreichen Gegenstände dieses Kampfes war das Schuhwerk meiner Mutter. Gretel hatte schon immer Probleme mit den Füßen gehabt und über Schmerzen beim Laufen geklagt. Anfang der 90er hatte sie sich die schief gewachsenen Zehen operativ begradigen lassen. Das brachte viele Qualen, doch nicht den gewünschten Erfolg mit sich. Jetzt wurde das Thema akut, da Gretel sich wegen der Schmerzen immeröfter weigerte spazieren zu gehen. Nach einer Ärzteodyssee hatte mein Vater einen spezialisierten Schuster beauftragt, einen orthopädisch gerechten Schuh für Gretel anzufertigen. Doch sie befand das kostspielige Stück für zu eng und wollte es nicht anziehen. Mein Vater bat sie inständig, den Schuh einzutragen, doch dafür war der Schuh in Gretels Augen zu neu und zu teuer. Sie stellte das maßgeschneiderte Paar Schuhe demonstrativ ins Treppenhaus, um sie »zu schonen«. Meinen Vater ärgerte das sehr, denn sein Ziel war es gewesen, Gretel mit besseren Schuhen endlich wieder zum regelmäßigen Spazierengehen zu bewegen. Es war ein tägliches Ringen mit ihrem Widerwillen. Sie erklärte immer wieder, dass sie nicht hinaus wolle und vor allem nicht in den Park, weil ihr angeblich ständig kleine Steinchen in die Schuhe rutschten. Meist stellten sich die Steinchen dann lediglich als unangenehme Falte im Socken heraus. Das einzige Schuhwerk, das ihr keine Schmerzen verursachte und das sie ohne größere Diskussion anzog, waren ein paar alte ausgetretene Sandalen, die natürlich im Winter nicht gerade ideal waren. Da war es dann auch kein Wunder, wenn ihr tatsächlich Steinchen unter die Füße rutschten.
Ein weiterer Konfliktherd war das Radio. Mein Vater versuchte Gretel abzugewöhnen, es ständig laufen zu lassen. Gretel aber bemühte sich um das Gegenteil. Sowohl in der Küche als auch in ihrem Schlafzimmer gab es eine Deutschlandfunk-Dauerberieselung. Besonders nachts ging dies meinem Vater auf die Nerven. Er interpretierte ihre Radio-Obsession als Abwehrverhalten. Immer wieder, wenn er Gretel anhielt, etwas zu tun, sagte sie: »Pst! Das Radio läuft.«
Keine Wirtschaftskrise, kein politischer Umbruch durfte unbemerkt an ihr vorübergehen. Von den Unmengen an Berichten und Informationen blieb aber nichts hängen. Schon eine halbe Stunde später waren die gleichen Nachrichtenwieder aktuell und spannend für sie – immerhin: So konnte das Radioprogramm nie langweilig werden! Wahrscheinlich wollte sie einfach auf dem Laufenden bleiben. Ohne Kurzzeitgedächtnis musste man doch ständig Angst haben, etwas Wichtiges zu verpassen oder vergessen zu haben. Mein Vater interpretierte Gretels Radiodauerprogramm als Zeichen ihrer Vereinsamung und reagierte resigniert.
Da es keine offizielle Demenz-Diagnose, also keine klare medizinische Erklärung für Gretels Veränderung gab, begann er hemmungslos zu psychologisieren. »Jetzt will sie mir heimzahlen, dass ich mich nicht genug um sie gekümmert habe!«
Die Konsequenz des diesjährigen ›Staub- und
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