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Vergiss mein nicht (German Edition)

Vergiss mein nicht (German Edition)

Titel: Vergiss mein nicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sieveking
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mein Hochzeitskleid selber genäht. Ich hatte ja nichts.«
    »Weißt du noch, Gretel«, erwiderte meine Großmutter, »damals in Tunesien hattet ihr ja wirklich nichts mehr.« Sie erinnerte daran, wie ein Brand an Bord des Frachters ausgebrochen war, der unsere Sachen nach Afrika transportieren sollte, und wie nur noch die verkohlten Reste unserer Habseligkeiten dort ankamen.
    »Ich habe das eigentlich als Glücksfall empfunden«, kommentierte mein Vater die Katastrophe. »Wir waren eine Menge unnützen Krempel los und konnten das schöne leere Haus in aller Ruhe nordafrikanisch einrichten.« Gretel hatte allerdings mit einer großen Ladung Windeln aus Deutschland gerechnet, die bei der Havarie verbrannt war. Pampers waren damals absolute Mangelware in Tunesien, und als meine Großmutter ihren Besuch ankündigte, bekam sie den Auftrag, ein großes Paket mitzubringen. »Ich habe Gretel noch nie so freudig erlebt, wie bei meiner Ankunft mit den Windeln!«, stellte meine Großmutter fest, worauf Gretel reflexartig erwiderte: »Wie bitte? Ich? Das glaub’ ich nicht!«
    Meine Großmutter wurde daraufhin sehr nachdenklich und erzählte uns von der größten Katastrophe ihres Lebens: »Das hatte auch mit einem Unglück auf dem Meer zu tun und passierte nach dem Krieg.« Damals lebte sie mit ihrer Mutter, ihrem Mann und ihren ersten zwei Söhnen zusammen in einer Zweizimmer-Wohnung im zerbombten Hamburg. Meine Urgroßmutter wollte ihrer Tochter nicht zur Last fallen und entschloss sich, nach Australien zu reisen, wohin ihre zweitälteste Tochter ausgewandert war. Über ausländische Kontakte bekam sie nach monatelangen Bemühungen einen Platz für die Überfahrt auf einem Frachtschiff. Die Reise führte um die Südspitze Afrikas herum und sollte ungefähr sechs Wochen dauern. Unterwegs brach an Deck eine Gürtelrose aus; meine 70-jährige Urgroßmutter infizierte sich damit und erlag schließlich den Folgen der Krankheit. Am Kap der Guten Hoffnung wurde ihr Leichnam in Flaggentuch gewickelt und dem Meer übergeben. Mit dem Schiff erreichte nur noch das mütterliche Gepäck die Tochter in Sydney.
    Für meine Großmutter in Hamburg war die Nachricht vom Tod der Mutter der Schock ihres Lebens. »All die Briefe, die ich ihr geschrieben hatte, erreichten sie nie«, beendete sietief gerührt ihre Erzählung und Tränen schossen ihr in die Augen. Sie fasste ihren Sohn dramatisch am Arm und sank von ihren Gefühlen überwältigt zusammen – offenbar ein Kreislaufzusammenbruch. Halb bewusstlos trugen wir sie ins Bett.
    Nachts vor dem Einschlafen ging mir der Gedanke durch den Kopf, dass meine Mutter heute das gleiche Alter hatte, wie meine Urgroßmutter, als sie sich damals auf den Weg nach Australien machte. Auch Gretel hatte sich auf eine Reise begeben, sie entfernte sich stetig von uns und war immer schlechter zu erreichen. Niemand wusste, wie lange die Fahrt dauern würde, und sie führte in ein unbekanntes Land.
    Beim Frühstück hatte sich meine Großmutter wieder einigermaßen erholt. Der Zusammenbruch an Heiligabend war ihr ausgesprochen peinlich: »Das muss am Rotwein gelegen haben. Irgendjemand hat mir ständig nachgeschenkt!« Sie konnte sich aber noch an alles gut erinnern, während Gretel in ihrem Zimmer saß und ihren Terminkalender studierte. Sie wollte nicht zum Frühstück kommen und rätselte über die Ereignisse des vorigen Abends: »Ich dumme Kuh weiß einfach nicht mehr, was gestern passiert ist.«
    Sie war ganz niedergeschlagen, und die gute Laune der vergangenen Nacht war verflogen. Doch ich hatte durch ihren ›Erinnerungsflash‹ Hoffnung geschöpft, dass ihr Gedächtnisschwund vielleicht doch einer Depression geschuldet sein könnte. Ein Arzt hatte uns einmal erklärt: »Auf praktisch jeder Demenz sitzt eine Zeit lang eine Depression drauf.« Die Vermutung, meine Mutter sei vergesslich geworden, weil sie unter einer Depression litt, war mir eigentlich suspekt, aber natürlich musste einen das zutiefst deprimieren, wenn man mitbekam, wie sich die eigene Persönlichkeit langsam auflöste. Aber war Gretel nun vergesslich, weil sie traurig oder traurig, weil sie vergesslich war?
    Ich konnte mir nicht vorstellen, dass diese lebensfreudige, selbstbewusste Frau insgeheim derartig niedergeschlagen gewesen sein konnte, dass sie eine ›Scheindemenz‹ entwickelte. Meine Schwestern sahen das anders und fanden es plausibel, dass Gretel lange Zeit ihr Leid nicht gezeigt und in sich hineingefressen hatte. Ich hatte ja

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