Vergiss mein nicht (German Edition)
Schimmel-Weihnachten‹ war eine Krisensitzung von uns Geschwistern mit meinem Vater. Wir wollten ihn dazu bringen, sich Hilfe ins Haus zu holen. Ob er nicht eine Putzfrau bestellen wolle?
»Mir macht es aber Spaß, zu putzen! Ich möchte nicht, dass eine Putzfrau mir das wegnimmt, dass ich den Boden aufwische. Ich hasse Staubsauger. Ich möchte lieber mit der Hand schöne dicke Staubfahnen ernten. Es ist gut für den Rücken, wenn man ein bisschen kniet. Das ist wichtig, dass ich mich mal bücke, ich mache sowieso viel zu wenig Sport.«
Zum ersten Mal hatte ich ernstlich Sorgen, ob mein Vater das alles noch im Griff hatte. Gretel konnte zwar theoretisch noch vieles, aber sie hatte immer weniger Lust, sich selbst zu waschen oder umzuziehen, und man musste sie bei fast allen alltäglichen Verrichtungen anleiten. War sich mein Vater bewusst, was da auf ihn zukam?
»Ach wisst ihr, ich habe dieses Buch von John Bailey über seine Frau Iris Murdoch gelesen, die Schriftstellerin, die Alzheimer hatte. Er schreibt, wie er sich irgendwann einfach mit ihr ins Bett legte und alles im Chaos versinken ließ. Das sah er als beste Lösung, er fand das so richtig. Das finde ichauch eine Möglichkeit. Ein bisschen Chaos finde ich nicht so schlimm.«
Immerhin stimmte mein Vater zu, eine Pflegestufe für Gretel zu beantragen und sich um eine gesetzliche Vollmacht zu kümmern. Und was war mit Essen? Mein Vater hatte sich außer durch seine üppigen Obstsalate in diesem Bereich noch nie besonders hervorgetan.
»Dann koche ich halt was!«, entgegnete er trotzig.
»Aber es geht nicht darum, mal was zu kochen«, hielten wir ihm vor, »sondern um tägliche geregelte Mahlzeiten.«
»Dann lerne ich das eben jetzt!«
Wäre Gretel bei dem Gespräch dabei gewesen, hätte sie wahrscheinlich spitz kommentiert: »Wer’s glaubt ...«
An Heiligabend war es jedenfalls Maltes 93-jährige Mutter, die zusammen mit meiner Schwester für ein festliches Mahl sorgte und das ›berühmte‹ Hühnerfrikassee nach Großmutters Rezept zubereitete. Die Kerzen leuchteten, und die Stimmung war prächtig, als wir uns versammelten. Urenkel, Enkel und Kinder saßen um meine würdevolle, ordentlich frisierte Großmutter herum, die geistig und körperlich noch gut beisammen war. Für meine Mutter waren solche großen Tischrunden schwierig geworden, sie konnte Gesprächen nicht mehr gut folgen, besonders, wenn durcheinandergeredet wurde. Aber heute Abend war Gretel wie ausgewechselt. Sie sah zwar etwas zerzaust aus, doch die Weihnachtslieder hatte sie gut mitgesungen. Die früher altbekannten Texte musste sie zwar ablesen, sang aber sogar ein paar Zeilen aus den Refrains auswendig mit. Begeistert lauschte sie ihren beiden Enkeln, die ein Weihnachtsgedicht vortrugen und bedachte sie mit lautstarkem Applaus. An diesem Abend tat sich dann ein Kanal in ihr auf, aus dem lange verschüttete Erinnerungen hervorsprudelten. Sie erzählte Dinge aus ihrer Kindheit,von denen wir noch nie etwas gehört hatten. »Ich hatte früher immer so große Angst vor dem Weihnachtsmann«, erzählte Gretel. »Und in der Schule mussten wir ›Heil Hitler‹ rufen.« Demonstrativ hob sie dazu die rechte Hand und berichtete, wie der gestrenge Lehrer sich jeden Morgen ihre Hände und Fingernägel besehen hatte. Und wenn sie nicht fein sauber waren, gab es Hiebe mit dem Rohrstock. Gretel untermalte ihre Erinnerung, indem sie ihre Hände auf den Tisch legte und die Handflächen wie zur Inspektion nach oben drehte. Für einen Moment betrachtete sie ihre Hände, als ob sie selbst über ihr Erinnerungsvermögen staune. Vielleicht hatte sie aber auch einfach nur den Faden verloren.
Etwas später erinnerte sie sich plötzlich daran, wie sie mich einst als Baby nackt in ihrem Arm gehalten hatte und mir noch als ich schon fast zwei Jahre alt war die Brust gab: »Weil die tunesische Milch gefährlich war.« Ein Jahr nach meiner Geburt waren wir nach Tunesien gezogen, wo mein Vater für zwei Semester an der Universität unterrichtete.
Meine Großmutter nutzte die Gelegenheit, um wieder einmal ihre Bewunderung für Gretel auszudrücken, die unsere mehrjährigen Auslandsaufenthalte in Tunesien, später in Ecuador organisiert und sich dort unter schwierigen Bedingungen um Haushalt und Familie gekümmert hatte. Gretel reagierte auf das Loblied ihrer Schwiegermutter abwehrend. Sie mochte es nicht, wenn Aufhebens um sie gemacht wurde. »Ach was! War doch klar. Ich hab immer viel selber gemacht und auch
Weitere Kostenlose Bücher