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Vergiss mein nicht (German Edition)

Vergiss mein nicht (German Edition)

Titel: Vergiss mein nicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sieveking
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»Alzheimer Drama Assauer ›Auf einmal ist alles vorbei!‹ ... und kein Mensch kann dir HELFEN« – gleich darunter in einem gerahmten Kasten die weltbewegende Frage: »76,8 Kilo – Jauch zu dünn?« Trotz meiner innerlichen Abwehr gegen das Blatt siegt meine Neugier, und ich kaufe die Ausgabe, um den im Verhältnis zur Schlagzeilengröße winzigen Text zu lesen. Rudi Assauer, ehemaliger Schalker Fußballmanager und Zigarren-rauchender Macho, ist 68 und geht unter großem Mediengetöse mit seiner Alzheimer-Erkrankung an die Öffentlichkeit. ›Auf einmal ist alles vorbei‹, wird er zitiert. Aber wieso soll alles vorbei sein für einen pensionierten Fußballmanager, der gerade seine Biografie veröffentlicht und geistig noch so klar ist, dass er Fernsehauftritte und Galaveranstaltungen meistert? Das klingt doch eher nach einer interessanten neuen Lebensphase.
    Bei der Lektüre von Auszügen aus Assauers Buch stoße ich auf interessante Parallelen zu meiner Mutter. Gretel war ungefähr im gleichen Alter wie Assauer, als sich ihre Demenz bemerkbar machte. Beide hatten eine Mutter, die ebenfalls schwer dement war und an den Folgen starb. Assauers Mutter war wie meine Großmutter im Pflegeheim gestürzt, hatte sich einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen und war anschließend operiert worden. Beide stürzten dann erneut, und fürbeide kam dann bald das Ende. Assauers Mutter fiel aus dem Bett und starb anschließend auf dem OP-Tisch. Der ehemalige Fußballmanager berichtet, dass er gerade auf dem Weg war, um seiner Mutter ein ›tödliches‹ Medikament zu besorgen, als er die tragische Nachricht hörte. Meine Großmutter kam nach ihrer Oberschenkelfraktur in den Rollstuhl und fiel in einem unbeobachteten Moment bei dem Versuch, wieder aufzustehen, erneut. Daraufhin wurde sie vollständig bettlägerig und fing sich eine Lungenentzündung ein, an der sie schließlich starb, da sie nicht auf die Antibiotika ansprach.
    Mit Gretel sind wir jetzt in einer ganz ähnlichen Situation. Am Abend sitze ich wieder an ihrem Bett und halte ihre Hand – draußen geht die Sonne unter und taucht das Zimmer in ein warmes Licht. Immer wieder hustet sie, ihr Atem rasselt und klingt schwach. Die schöne Beleuchtung macht die Szene umso trauriger. »Der große, große Brocke – große, große Brockele –«, lallt sie mit geschlossenen Augen. »Ich versuche, suche –« Sie streckt mir ihre durch den Katheter geschwollene Hand entgegen, ich ergreife und streichele sie. Da öffnet sie kurz die Augen und spricht: »Das ist doch gut. Das ist gut. Oh, das ist gut.« Draußen wird es stetig dunkler, und mir schießen Tränen in die Augen. Wird die Sonne für meine Mutter noch einmal aufgehen?
    Es ist vertrackt! Erst wenn es soweit ist, dass man einen Menschen, dem man sehr nahesteht, nichts mehr fragen kann, fällt einem ein, was man eigentlich alles von ihm wissen wollte. Doch dann ist es zu spät. Während ich heute Nacht an der Seite meiner fiebrigen Mutter sitze, kommen mir Episoden aus unserem Leben in den Sinn, über die ich versäumt habe, mit ihr zu sprechen.
    Eine dieser Geschichten spielte sich ab, als ich ein zehn Jahre alter Bücherwurm war und einen Fantasy-Wälzer nach dem anderen verschlang. Ich hatte den ›Kleinen Hobbit‹ unddie ›Herr der Ringe‹-Trilogie bereits durch, als mich der Roman ›Wintersonnenwende‹ in seinen Bann schlug. Das Buch war Teil der englischen ›Lichtjäger‹-Reihe. Hauptptfigur war, schon 20 Jahre vor ›Harry Potter‹, ein schmächtiger Junge, der seine Zauberkräfte entdeckt. Die Geschichte nahm mich so gefangen, dass ich gar nicht mehr aus dem Bett wollte und mich krank stellte, um nicht in die Schule zu müssen. Der Junge im Buch war genau in meinem Alter und wurde vor seinem elften Geburtstag von mysteriösen Ahnungen und Träumen heimgesucht. Ich las das Buch wie eine schicksalhafte Prophezeiung für mich. Es ging um den alles entscheidenden Kampf zwischen Gut und Böse, der bald in die finale Phase treten würde. Was ich im Unterricht lernen konnte, war lächerlich im Verhältnis zur Lektüre dieses Buches, aber es war klar, dass es schwierig sein würde, meine Mutter davon zu überzeugen, dass ich jetzt unmöglich in die Schule gehen konnte. Also klagte ich über Bauchschmerzen und behauptete, mir sei kalt, obwohl ich unter zwei Decken in einem gut beheizten Zimmer schwitzte. Meine Mami befühlte besorgt meine Stirn, und ich erzählte ihr von seltsamen Träumen, in denen ich von bösen

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