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Vergiss mein nicht (German Edition)

Vergiss mein nicht (German Edition)

Titel: Vergiss mein nicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sieveking
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durchgeschüttelt hat. Glaubte sie mir diese frechenLügen wirklich? Sie musste sich doch fragen: ›Warum in aller Welt schlägt mein angeblich von Krankheit geschwächter Junge ständig Fieberthermometer gegen seine Bettkante?‹ Vielleicht fügten sich in ihren Augen aber auch meine Albträume und das seltsame Verhalten zu einem besonders besorgniserregenden Krankheitsbild.
    Jedenfalls hatte ich das Buch gerade ausgelesen, in dem das Böse schließlich unterlag, und war auf bestem Weg, mich von meinem Lesefieber zu erholen, als mir meine Mutter erklärte, sie würde mich »zur Beobachtung« in eine Kinderklinik nach Frankfurt bringen. Während ich noch überlegte, wie ich ihr erklären konnte, dass von dem Büchervirus, der mich befallen hatte, keine Gefahr mehr ausging, fuhr sie mich schon in das Krankenhaus. Die anderen meist sterbenskranken, kleinen Patienten auf meiner Station waren höchst erfreut, in mir einen quietschfidelen, anscheinend kerngesunden Spielkameraden zu finden. Mir wurde zum ersten Mal bewusst, wie gut es mir eigentlich ging. Am meisten Zeit verbrachte ich mit einem bleichen, stillen Jungen in meinem Alter, der an Leukämie erkrankt war. Wir lieferten uns exzessive Monopoly- Schlachten, und ich begeisterte ihn für meine Comic-Sammlung. Der sterbenskranke Junge erschien mir viel reifer und weiser als meine Altersgenoosen – war er einer der ›Uralten‹, ein ›Wächter des Lichts‹, der mit mir das Böse bekämpfen konnte?
    Leider blieb mir nicht die Zeit, das herauszufinden. Denn als der Stationsarzt mir zum ersten Mal Fieber maß, ließen mich die ›Mächte des Lichts‹ vollends im Stich. Die Messung geschah anal und im Beisein des Arztes. Ein äußerst entwürdigendes Szenario, von Fieber keine Spur. Welch peinlicher Vorführeffekt!
    Mir war das natürlich besonders meiner Mutter gegenüber unangenehm. Jetzt hatte sie diesen ganzen Aufwand betrieben, mich in diese Spezialklinik gebracht, und nun war allesumsonst: Kein Fieber mehr! Doch sie war gar nicht böse, sondern im Gegenteil sehr erleichtert und nahm mich am dritten Tag, an dem in der Klinik nichts Auffälliges an mir festgestellt werden konnte, wieder nach Hause. Der Arzt hatte, wegen meiner auffälligen Aufgekraztheit, lediglich den Verdacht auf Schilddrüsenüberfunktion geäußert. Im Kontrast zu all den schlappen, kranken Kindern auf der Station war dieser Verdacht auch kein Wunder!
    Leider habe ich die ganze Geschichte Gretel gegenüber nie aufgeklärt. Wie gerne hätte ich gewusst, wie sie die Ereignisse beurteilt hätte. War sie in ihrer mütterlichen Sorge damals blind für die Realität gewesen?
    Vielleicht sind wir heute in unserer Liebe und Hoffnung auf eine Verbesserung von Gretels Zustand auch blind gegenüber dem, was eigentlich geschehen sollte.
    Am Morgen kommt die Hoffnung in Gestalt der Krankengymnastin durch die Tür, die endlich, nach über einer Woche bei uns in der Klinik erscheint. Die große, kräftige Frau wird von einer Schwester begleitet. Die Physiotherapeutin ist nicht dafür, Gretel im Liegen ›durchzubewegen‹, wie das die Ergotherapeutin vor ein paar Tagen demonstriert hat.
    »Das macht man heute nicht mehr«, erklärt die Krankengymnastin der verdutzten Schwester, die ihr helfen soll, Gretel aus dem Bett zu holen und in den ›Mobilisationsstuhl‹ zu setzen.
    »Aber ich habe das ›Durchbewegen‹ in meiner Ausbildung gelernt«, wundert die Schwester sich.
    »Ja, ja, früher hat man das auch so gemacht«, belehrt die Krankengymnastin sie.
    »Aber ich bin doch erst vor fünf Monaten mit der Ausbildung fertig geworden!«
    »Nun ja, jedenfalls unten in der Intensivstation machen wir sowas wie ›Durchbewegen‹ nicht mehr.«
    Es sei erwiesenermaßen besser, den Patienten sich auf ›natürliche‹ Weise bewegen zu lassen, wie beim Aufstehen oder Hinsetzen. ›Gegen den Patienten‹ zu arbeiten wie beim Durchbewegen sei dagegen nicht so förderlich. Gretel wird also mit vereinten Kräften in den ›Mobistuhl‹ gesetzt. Sie wehrt sich nicht und wirkt auf einmal recht munter. Es ist das erste Mal hier im Krankenhaus, dass sie vom Liegen in eine sitzende Position gebracht wird. Eigentlich leuchtet es ein, dass Sitzen anregend auf ihren Kreislauf wirkt und weniger stressig ist, als mit viel Mühe gegen ihren Willen ihre Gliedmaßen zu knicken und zu strecken. Gretels Arme machen abgesehen von der infusionsbedingten Schwellung einen guten und kräftigen Eindruck. Ihre Beine erschrecken mich aber.

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