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vergissdeinnicht

vergissdeinnicht

Titel: vergissdeinnicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cat Clarke
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irgendwie sickerten sie durch. Tropf-tropf-tropften Gift in meinen Kopf.
    Tropf. Wann war das erste Mal? Sch, nicht zuhören.
    Tropf. Wer hat angefangen? Es ist egal. Still.
    Tropf. Wie konnten sie mir das antun? Das machen Menschen. Wehtun.
    * * *
    Ich schlief. Ein wirrer, unruhiger Schlaf.
    Träumeundgedankenundfragen durcheinander und im Kopfstand und verkehrt herum.
    Schneiden. Rausschneiden. Tiefer. Anders geht’s nicht.
    Das Gift war stärker als ich. Ich hatte keine Kraft zu widerstehen. Schnitt .
    * * *
    Ich wachte mit einer neuen Frage auf: Warum hatte er gesagt, ich sollte zu ihm kommen? Er konnte kaum gewollt haben, dass ich das sehe … oder? Es sei denn, das war seine ganz persönliche, unverwechselbare Art, mit mir Schluss zu machen? Nein. Denk noch mal nach.
    Und dann wusste ich es. Nicht Nat hatte gewollt, dass ich es sehe.
    * * *
    Später. Mum schlich sich rein. Ich tat so, als würde ich schlafen. Sie streichelte meine Wange, und von ihrer Berührung fing meine Haut an zu kribbeln und zu krabbeln und zu jucken. Sie blieb ein paar Minuten, und bevor sie ging, flüsterte sie: »Ich liebe dich.«
    Lügnerin .
    * * *
    Montagmorgen. Fröhlicher Sonnenschein floss durch mein Fenster. Heute ist der Tag. Ich lächelte das Geistermädchen im Spiegel an. Sie sah anders aus. Ich duschte und zog mich an und schminkte mich und ging runter.
    Jetzt der schwierige Teil … »Morgen, Mum.«
    Sie saß in der Küche und hatte mir den Rücken zugedreht. Sie sagte nichts.
    Ich stellte mich hinter ihren Stuhl und umarmte sie, wie früher. Ich flüsterte: »Es tut mir wirklich, wirklich leid wegen gestern. Ich hab das alles nicht so gemeint. Ich war nur müde und durcheinander – Sal und ich … haben uns am Samstag verkracht.« Ich küsste ihre perfekt gepuderte Wange. »Ich weiß, das ist keine Entschuldigung, aber es tut mir leid.« So. Fertig.
    Sie tätschelte meinen Arm, und ich wusste, dass ich Erfolg gehabt hatte. »Es tut mir auch leid, Grace. Ich hab das nicht so gemeint … mit deinem Vater. Es war nur … wegen dem, was du gesagt hast …«
    Ich ließ mich auf den Stuhl neben ihr gleiten und nahm ihre Hand. »Ich hab mir das ausgedacht. Ich hab einfach irgendwas gesagt, was mir gerade eingefallen ist – das war total dumm. Sorry.«
    Sie sah mir in die Augen und sah mich nicht. Sie sah mich nie. Sie glaubte, was ich sie glauben lassen wollte. Immer. »Ehrlich, Grace. Du bist schon eine Komische, nicht wahr? Lass uns die Sache vergessen. Ich sag dir was – warum machen wir zwei nicht einen Frauenabend hier zu Hause? Nur wir zwei. Es wäre doch schön, ein bisschen zu … reden. Ich weiß, ich war in letzter Zeit nicht wirklich viel da, und es war alles nicht leicht für uns, seit dein Vater … aber ich glaube, wir sollten anfangen, mehr Zeit miteinander zu verbringen. Was sagst du?« Ihr Gesicht zeigte Hoffnung. Es ließ sie jünger aussehen.
    »Mum, schon okay. Ich bin ein großes Mädchen – ich kann auf mich selbst aufpassen. Und du hast es verdient, dein eigenes Leben zu leben. Alles ist in Ordnung – mach dir keine Sorgen um mich.« Es war leichter, als ich gedacht hatte. Die Worte kamen alle in der richtigen Reihenfolge heraus, und meine Stimme war weich und leise und … töchterlich. »Aber morgen hört sich gut an.« Ja. Morgen.
    »Wunderbar! Oh, ich hatte es fast vergessen. Sal hat gestern angerufen – ein paarmal sogar. Aber ich dachte, ich lasse dich am besten schlafen. Scheint, als würde sie sich wieder mit dir vertragen wollen, oder?«
    Ich meißelte mir ein falsches Lächeln ins Gesicht. »Ja. Super. Ich rede dann wohl in der Schule mit ihr. Alles wird gut.« Wir lächelten uns an, und ich bekam Angst, dass mein Gesicht auseinanderbrechen könnte.
    * * *
    Nach der Pause Doppelstunde Englisch. Sal war da, natürlich. Ihr Gesichtsausdruck, als ich mich neben sie setzte, war echt besonders.
    »Grace, hi. Ich wusste nicht, ob du kommen würdest. Ich … weiß nicht, was ich sagen soll.« Warum ist mir nur noch nie aufgefallen, wie mäuschenhaft sie klingt?
    »Hast du die Canterbury-Erzählungen dabei? Ich hab meine zu Hause gelassen.«
    » Was? Ist das dein Ernst?«
    »Was?«
    »Grace, wir müssen reden …«
    Die Lehrerin kam und fing an zu schwafeln und zu schwafeln und zu schwafeln, und ich schrieb mit. Ich schrieb besonders ordentlich und benutzte ein Lineal, um meine Überschriften zu unterstreichen. Sal neben mir kritzelte wild vor sich hin. Dann riss sie eine Seite aus ihrem Heft heraus

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