vergissdeinnicht
auszusprechen, die Worte zu jemandem zu sagen, der zuhörte und an den richtigen Stellen nickte und lächelte. Ethan sah nie gelangweilt aus. Er versuchte nicht, das Thema zu wechseln oder von sich zu erzählen. Er ließ mich reden und reden und reden, Gott weiß wie lange.
Und dann warf er mich mit einer Frage aus der Bahn. Seine Stimme war ganz leise, sein Gesicht bestand nur aus Mitgefühl, als er die fünf Worte sprach:
»Erzähl mir, wie er starb.«
Hatte ich nicht erwartet. Niemand hat mich das je gefragt. Nat hat das nie gefragt.
»Es gab einen Unfall. Einen schrecklichen Unfall.«
»Was ist passiert?« Ethan sprach so leise, dass es sich anfühlte, als wäre er wieder in meinem Kopf.
Tief Luft holen. »Er kam von einer Geschäftsreise zurück. Es war mein Geburtstag …«
»Sprich weiter«, überredete er mich.
»Er … Da war ein Bahnübergang. Sein Auto wurde von einem Zug erfasst.«
»Ein Unfall«, sagte er.
Ich nickte.
»Grace, du kannst mir die Wahrheit sagen. Du solltest die Wahrheit sagen.« Er kniete sich vor mich und hielt meine Hand. Seine Hand war kalt. »Ich weiß, dass du es kannst. Du bist nun stark genug.«
Es hatte jetzt keinen Zweck mehr zu lügen. »Er ist auf das Gleis gefahren und hat angehalten. Es war Absicht. Er hat sich umgebracht.«
Ethan nickte. »Das muss für dich und deine Mutter sehr schwer gewesen sein.«
»Schwer für sie ? Es war ihre Schuld!«
»Warum sagst du das?«
Das ließ mich auf der Stelle innehalten. Warum sagte ich denn so was? Warum hatte ich das immer gedacht?
»Es … Sie war richtig scheiße zu ihm.«
»War sie das?«, sagte er, und ich stellte mir gerade dieselbe Frage.
Ich zögerte. »Ja, sie …« Die Worte zerfielen in meinem Mund. Sie hat ihn geliebt. Über alles. Sie hat alles für ihn getan. Das ist die Wahrheit.
»Du hast immer ihr die Schuld gegeben, richtig? Was glaubst du, warum?«
Warumwarumwarumwarumwarum?
»Weil sie da war.«
Ethan nickte. »Und er nicht, richtig?« Seine Stimme war heiser.
Tränen stiegen auf. Ich war überrascht, wie lange ich sie zurückgehalten hatte. »Er hat mich verlassen. An meinem Geburtstag. An meinem verdammten Geburtstag ! Warum hat er so was getan? Wie konnte er mir das antun?« Ich schluchzte jetzt. Ich stand auf und warf mich aufs Bett. Zu viele Gedanken und Erinnerungen bevölkerten meinen Kopf.
Ich spürte, wie sich Ethan neben mich auf den Matratzenrand setzte. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wie jemand so was tun kann.«
Ich sprach in mein Kissen. Meine Stimme war dumpf. »Er hat nie an uns gedacht. Er hat uns mit nichts zurückgelassen. Wie konnte er so egoistisch sein?«
»Du hast recht, Grace. Es war sehr egoistisch von ihm.«
Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf. Ein Gedanke, den ich nie zuvor gehabt hatte. Nicht mal, als alles wirklich, wirklich schlimm war.
Als ich ihn dachte, sprach Ethan ihn im selben Moment laut aus:
»Ich hasse ihn.«
Tag 27
Als Nat von der Arbeit zurückkam, war er erschöpft vom Fässerwechseln und Den-ganzen-Tag-nett-zu-Leuten sein. Ich fühlte mich scheiße, und es war mir peinlich, dass ich mich geritzt hatte. Wie sollte ich ihm das erklären? Wie hatte ich nur so dumm sein können?
Wir bestellten Pizza und hingen vorm Fernseher ab. Wir sprachen nicht viel. Nat lag schließlich mit seinem Kopf auf meinem Schoß, und ich streichelte über sein Haar. Es war gemütlich. Also, das wäre es gewesen, wenn ich nicht die ganze Zeit Angst davor gehabt hätte, dass er sehen würde, was ich mir angetan hatte. Es wurde später und später, und ich konnte kaum noch die Augen offenhalten.
»Komm schon, lass uns ins Bett gehen, Schlafmütze.« Nats Stimme schien von weit her zu kommen. Ich öffnete die Augen und sah, wie er unsere Gläser und die Pizzaschachteln wegräumte. Ich rieb mir übers Gesicht und sah auf die Uhr auf dem Kaminsims. Es war nach zwei.
Nat packte meine Hände und zog mich vom Sofa. Er küsste mich auf die Stirn, dann schob er mich zur Treppe. Jeder Schritt war ein Berg, den ich widerstrebend bestieg. Aber was sollte ich sonst machen? Ich konnte nicht für immer unten bleiben. Und ich war so wahnsinnig müde. Als wir in mein Zimmer kamen, drehte ich mich zu Nat und küsste ihn. Ich war nicht mit dem Herzen bei der Sache, und er merkte es wohl.
»Warum ziehst du dir nicht … äh … deinen Pyjama oder dein Nachthemd oder was auch immer an, und ich putz mir schon mal die Zähne?«
Pyjama ? Nat sollte nicht mal wissen, dass ich
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