Vergissmichnicht
deren Besuch über die Vergangenheit seiner Frau erzählt hatte, sonderlich großen Eindruck auf sie gemacht hatte. Sicher, die Beamten hatten besorgt dreingeblickt, waren aber ganz offensichtlich mit der Situation überfordert gewesen und hatten seine Ausführungen zu einem Mordfall, der sich vor über 30 Jahren am Bodensee ereignet hatte, nicht so ganz mit dem Verschwinden seiner Frau aus St. Tropez in Verbindung bringen können. Stattdessen hatten sie, das hatte Didier an ihren Fragen gemerkt, sogar den Verdacht, dass Marlene ihre Mutter ermordet haben könnte. Dass sie jeden Kontakt zu ihrer Mutter abgebrochen hatte, schien den Beamten wohl ein Indiz zu sein. Und keiner hatte sie an jenem Abend gesehen, Marlene hatte zur Tatzeit also kein Alibi und auch für die Stunden davor und danach nicht. Sie war, wie so oft, alleine in ihrem Zimmer gewesen und hatte am Mordtag kein Mittagessen und kein Abendessen zu sich genommen. Sie war ständig besorgt um ihre Figur und aß selten, wenn er, wie am Mordtag, bis spätnachts außer Haus war. Da sie getrennte Schlafzimmer hatten, konnte er ihr nicht einmal für die Nacht ein Alibi geben. Erst am Morgen nach dem Mord hatte Jean-Luc, der Chauffeur, sie gesehen und zu Chanel gefahren. Und am selben Tag, darüber hatten die Polizisten ihn inzwischen informiert, sei sie sturzbetrunken in einer Nobelbar am Hafen gesehen worden. Die Kellner hätten ausgesagt, dass sie Marlene Didier schon oft zu Gast gehabt hätten, sie jedoch noch nie auch nur beschwipst erlebt hatten, geschweige denn völlig betrunken.
Charles konnte sich seine unterkühlte Frau, die stets die Contenance zu wahren wusste, nur schwer sturzbetrunken vorstellen. Die Kellner mussten sie verwechseln. Oder aber sie hatte schon zuvor vom Mord an ihrer Mutter erfahren und deshalb so viel Alkohol konsumiert. Diese Vermutung hatte er auch dem ermittelnden Beamten gegenüber geäußert, aber Dupont hatte bedauernd den Kopf geschüttelt. »Wir haben die Telefon- und Mobilfunknummer Ihrer Frau ebenso überprüft wie ihren Rechner. Sie hatte in jenen Tagen keinerlei Kontakte nach Deutschland.«
Immerhin hatten sie ihr Handy und ihre Mails überprüft, aber das war auch schon alles. Er hatte nicht das Gefühl, dass sich die Polizei sonderlich Mühe gab, seine Frau zu finden. Und das machte ihn unsagbar wütend.
Immer noch hielt er den Telefonhörer in der Hand. Er holte tief Luft und tippte eine Nummer ein. Es war die Handynummer des Polizeipräsidenten.
»Charles, mein lieber Freund, wie schön, dich zu sehen!« Pierre Crossier segelte mit weit ausgebreiteten Armen auf Didier zu, als dieser sein Büro betrat. »Schreckliche Sache, das mit deiner Frau. Aber du kannst beruhigt sein, wir arbeiten mit Hochdruck an dem Fall«, versicherte der Polizeichef eifrig und etwas in der Art, wie er ihn ansah, beunruhigte Charles. War es Mitgefühl? Bedauern?
Er glaubt auch, dass sie ihre Mutter ermordet hat, dachte Charles niedergeschlagen.
»Aber bitte, setz dich doch«, sagte Pierre und deutete auf die bequeme Sitzgruppe. Dunkelbraune, durchgesessene Ledersessel, ein glänzender brauner Furniertisch mit einem Kristallaschenbecher darauf. Charles ließ sich in das weiche Leder sinken, Crossier nahm ihm gegenüber Platz. »Was kann ich für dich tun?«, fragte er.
»Du bist über die Vergangenheit meiner Frau informiert?«
Crossier nickte schwer. »Ja, und es tut mir sehr leid. Hut ab, mein Freund, wie du sie damals da rausgeholt hast. Ich vermute, ohne dich wäre sie zerbrochen.«
»Möglich«, erwiderte Charles und starrte auf seine ineinander verschränkten Finger, die auf seinem Schoß lagen. »Aber das hilft mir momentan auch nicht weiter.«
Crossier blickte seinen Freund über den Rand seiner dicken Hornbrille hinweg abwartend an.
»Ich habe den Eindruck, dass ihr nicht sonderlich intensiv nach ihr sucht. Und ich habe das Gefühl, deine Männer glauben, meine Frau habe ihre Mutter ermordet«, presste Charles heraus.
Crossier erhob sich, ging zum Fenster und sah hinaus. Charles kannte seinen Freund gut genug, um zu wissen, wie unangenehm ihm die Situation war. Ihre Freundschaft war eine Freundschaft der guten Tage. Man war befreundet, weil man der besseren Gesellschaft von St. Tropez angehörte, ging zusammen Golf spielen oder traf sich bei Empfängen und tanzte dort ein Anstandstänzchen mit der Gattin des jeweils anderen. Eine Welt jenseits des schönen Scheins hatte es zwischen ihnen bisher nicht gegeben.
»Du weißt,
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