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Vergissmichnicht

Vergissmichnicht

Titel: Vergissmichnicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva-Maria Bast
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als sei seit Monaten nicht gelüftet worden. Der Gestank setzte sich aus einer Mischung aus stinkenden Socken, verschimmelndem Essen und verschüttetem Bier zusammen. Wohin Alexandra auch blickte: Sie sah leere Pizzakartons mit Pizzaresten, Chipstüten, umgekippte Bierflaschen und schmutzige Wäsche. Und mittendrin saß Ralf in einem dreckstarrenden T-Shirt und stank nach Schweiß.
    Ralf gehörte zu den Menschen, die es mit der Körperpflege nicht allzu genau nahmen, doch so schlimm wie heute hatte Alexandra es nie empfunden. Lag es an ihr und daran, dass sie seinen Geruch nun, frisch aus Oles herrlich duftenden Armen kommend, nicht mehr ertragen konnte? Oder lag es an ihm, ließ er sich mehr gehen als sonst?
    »Ach, lässt du dich auch mal wieder blicken«, maulte er, als sie zur Wohnungstüre hereinkam. Sie hatte von ihrem Schlüssel Gebrauch gemacht, zuvor aber geklingelt. Was untypisch für sie war.
    »Wir haben ein bisschen gefeiert. Du warst ja nicht da«, sagte Ralf, halb anklagend, halb entschuldigend, als er den entsetzten Blick sah, mit dem sie sich in der Wohnung umschaute. »Das mit dem Feiern ist aber schon ein paar Tage her«, kommentierte Alexandra angesichts des Zustands der Pizzareste.
    »Ja und?«, pampte Ralf. »Ich arbeite den ganzen Tag hart in der Werkstatt, schon vergessen? Andere Männer kommen abends in ein aufgeräumtes Haus zurück und ein ordentliches Essen steht auf dem Tisch.«
    Alexandra staunte, wie kühl sie innerlich blieb. Noch vor ein paar Wochen hätte sie dieses machohafte Gehabe zur Weißglut gebracht. »Andere Männer haben auch andere Frauen«, konterte sie deshalb gelassen und begann mechanisch, die Pizzakartons zusammenzuräumen und die Reste in den überquellenden Biomüll unter der Spüle zu stopfen. Dann richtete sie sich auf, wischte sich die Hände angeekelt an ihren Jeans ab und verkündete: »Und wenn du so eine Frau willst, Ralf, dann bist du bei mir an der falschen Adresse. Ich wünsche dir viel Glück bei der Suche.«
    Als Ralf merkte, wie ernst es ihr war, sprang er auf und versuchte, sie in seine Arme zu ziehen. »Hey, Süße, so war das doch nicht gemeint. Komm, sei nicht beleidigt und gib mir einen Kuss.« Sein Atem roch nach Alkohol, seine Hände grapschten gierig nach ihrem Busen. Angeekelt schob Alexandra ihn weg. »Ich meine das ganz ernst, Ralf«, sagte sie kühl. »Such dir eine andere. Ich hab dich und dein machohaftes Gehabe schon lange satt.« Mit diesen Worten legte sie ihm den Wohnungsschlüssel auf den Tisch und verließ die Wohnung. Als sie fast ganz unten angekommen war, wurde oben, in Ralfs Dachwohnung, die Türe aufgerissen. »Alexandra! Das kannst du nicht machen!«, rief Ralf ihr hinterher.
    Sie schwieg. »Also gut«, brüllte Ralf. »Dann geh doch dahin, wo der Pfeffer wächst. Aber glaub ja nicht, dass du dann wieder angekrochen kommen kannst.«
    Alexandra lächelte. Diese Gefahr bestand nicht.
    Sie ließ die Haustüre hinter sich ins Schloss fallen und ging beschwingt in Richtung Uferpromenade.

Dreiundzwanzigstes Kapitel
    An einem unbekannten Ort
    Marlene hatte Hunger und Durst. Ihr Gefängniswärter kam nicht mehr. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren, aber sie war sich absolut sicher, dass es nun schon ungewöhnlich lange her war, dass er sie das letzte Mal aufgesucht und ihr etwas zu trinken und zu essen gebracht hatte. Sie wimmerte leise, als sie an die Drohung dachte. Dass ihr das Gleiche blühen würde wie ihrer Mutter. Nur: Was war das Gleiche? Die Ungewissheit raubte ihr schier den Verstand. Ob man ihre Mutter auch gefangen hielt? Mit einem Mal verlor Marlene jede Hoffnung auf ein gutes Ende. Sie war sich sicher, dass sie hier, in diesem Keller, verhungern würde. Plötzlich sehnte sie sich nach Charles. Nach seinem Schutz, nach seinen starken, sie umfangenden Armen. Nach der Geborgenheit, die er ihr immer vermittelt hatte und die sie nie wirklich wertgeschätzt hatte. Wie war er für sie da gewesen, in jenen harten Jahren. Er hatte sie mit ihrer Vergangenheit und all ihren Narben, die sie davongetragen hatte, selbstverständlich geliebt und ihr ein Leben ermöglicht, um das sie viele beneidet hätten. Ein Leben in Luxus und Reichtum. Und was hatte sie getan? Ihn am langen Arm emotional regelrecht verhungern lassen, ihm zumindest innerlich den Rücken zugekehrt. Wie sie auch ihrer Mutter den Rücken gekehrt hatte. Und allen anderen, die ihr helfen wollten. Dabei war Charles so liebevoll gewesen, so aufmerksam, verständnisvoll und

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