Vergissmichnicht
wie sehr ich deine Frau schätze, mein lieber Freund«, sagte Crossier ausweichend. »Und du kannst sicher sein, dass wir alles tun, um sie zu finden. Ob sie allerdings etwas mit dem Mord an ihrer Mutter zu tun hat …«, er drehte sich um und breitete die Hände aus, »das zu ermitteln ist Sache der deutschen Kollegen oder, wenn es denn so weit kommt, Aufgabe von Interpol. Aber ja, ich will dir nichts vormachen. Die Indizien sprechen eindeutig gegen sie. Es tut mir leid.« Crossier musterte seinen Freund aufmerksam. Charles hatte den Kopf aufstöhnend in den Händen vergraben. Crossier fühlte mit ihm. Langsam durchschritt er den Raum und legte Charles die Hand auf die Schulter. Der blickte zu ihm auf. Die Verzweiflung hatte tiefe Kerben in sein Gesicht gegraben, die Linien um seinen Mund traten schärfer hervor. »Sie war es nicht. Du musst mir glauben. Sie wäre zu so etwas einfach nicht in der Lage.«
Crossier sah ihn bedauernd an und setzte sich wieder. »Das, mein Lieber, glauben wohl die meisten Ehemänner von ihren Ehefrauen.«
»Was sagen denn deine Kollegen in Deutschland? Haben die denn keinen Tatverdächtigen?«
»Doch, eine Frau«, sagte Crossier. »Aber der ermittelnde Kollege, ein Ole Strobehn, hat uns gegenüber durchblicken lassen, dass sie nicht an ihre Schuld glauben. Zu viele Ungereimtheiten.«
»Und wissen die deutschen Kollegen auch, dass meine Frau verschwunden ist und ihr sie verdächtigt?«
»Dass sie verschwunden ist, wissen sie, inwieweit sie ansonsten eingeweiht sind, kann ich nicht sagen, das müsste ich meine Sachbearbeiter fragen«, informierte ihn Crossier.
»Und sonst gibt es keine Tatverdächtigen? Keinen Mann?«, hakte Charles nach.
»Es gab mal einen, aber den haben sie wieder freigelassen. Kandidiert wohl in Konstanz als Oberbürgermeister.«
Charles’ Kopf fuhr hoch. »Und warum haben sie ihn wieder freigelassen?«
»Es ging darum, dass der Mörder mit dem Boot über den See kam und das Boot dieses Mannes war das einzige, das in jener Nacht den Konstanzer Hafen verlassen hat.«
»Wie ist das möglich? Nur ein Boot in einer ganzen Nacht auf dem großen Bodensee?«, wollte Charles wissen.
»Es war ungewöhnlich dichter Nebel und Sturmwarnung auf dem See«, erklärte Crossier. »Jedenfalls konnten die Kollegen wohl später nachweisen, dass die Putzfrau mit dem Boot gefahren ist. Die Beweise reichten aus, um sie zu verhaften und ihn freizulassen.«
»Wie heißt der Mann, der verhaftet wurde?«
»Das darf ich dir nicht sagen. Und ich weiß es auch gar nicht. Ich müsste es selbst erst recherchieren.«
»Bitte, Pierre. Es geht um das Leben meiner Frau«, flehte Charles.
»Tut mir leid.« Crossier presste die Lippen aufeinander und verschränkte die Arme. Ein sicheres Zeichen, dass er den Namen nicht preisgeben würde.
»Soll ich dir was sagen, Pierre?«, fragte Charles und richtete sich aus seiner bisher gebeugten Haltung auf. »Ich bin mir sicher, dass der Mörder von Carlo Bader auch der Mörder von Marlenes Mutter ist. Ihre Mutter war die Einzige, die den Namen von Carlo Baders Mörder kannte. Außer Marlene. Die kennt ihn auch. Marlenes Mutter wurde ermordet. Damit ist von den Menschen, die den Namen kennen, nur noch Marlene übrig. Jetzt ist sie verschwunden. Und anstatt alles zu tun, um sie zu schützen, verdächtigt ihr meine Frau, ihre eigene Mutter ermordet zu haben.«
Charles hatte sich richtig in Rage geredet und war inzwischen aufgesprungen. »Ich sage dir was, Pierre. Ich habe eure Untätigkeit und eure falschen Verdächtigungen satt. Seit Tagen beknie ich schon deine Kollegen, endlich Dampf in die Suche nach meiner Frau zu bringen, beiße aber auf Granit. Wenigstens von dir hätte ich mir mehr Hilfe erwartet. Und ein bisschen mehr Verstand.«
»Also, erlaube mal …«, versuchte Crossier, dem Wortschwall etwas entgegenzusetzen.
»Nein, ich erlaube nicht!«, brüllte Charles. »Ich fahre jetzt nach Hause und tue, was ich sonst nie tun würde: Ich durchsuche die Sachen meiner Frau nach irgendwelchen Hinweisen. Eine Arbeit, die deine Leute meiner Ansicht nach schon längst hätten tun müssen. Und dann fahre ich nach Deutschland und suche diesen Beamten auf.«
Mit diesen Worten stürmte Charles Didier aus dem Büro des Polizeipräsidenten, verließ eilig das Polizeigebäude, startete auf dem Parkplatz seinen Maybach und fuhr mit quietschenden Reifen in Richtung seines Anwesens.
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Überlingen
In Ralfs Junggesellenbude roch es,
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