Vergissmichnicht
der Klingelknopf, die aber keine Funktion hatten, sondern, wie Charles vermutete, lediglich zur Zierde dienten. Kaum hatte er den richtigen Klingelknopf gefunden, schallte ein harmonischer Dreiklang durch das Haus und bis in den Vorhof, in dem Charles sich befand. Wenig später öffnete eine unscheinbar aussehende Frau mit Goldrandbrille und auffallend grell geschminkten Lippen die hohe, moderne Eingangstüre. Sie musterte Charles Didier und die wenige Meter hinter ihm stehende Monja Grundel missbilligend. Die Kollegen von der Konstanzer Polizei warteten im Streifenwagen vor dem Haus.
»Schon wieder Polizei?«, schimpfte sie. »Ich weiß nicht, was Sie noch wollen. Ihr Kollege war doch schon heute Morgen hier. Das schädigt den Wahlkampf meines Mannes nachhaltig und ich werde das nicht länger dulden.«
»Ich bin nicht von der Polizei«, sagte Charles und bemerkte, dass sie beim Klang seines französischen Akzents zusammenzuckte. »Ich würde gerne Ihren Mann sprechen. Frau Grundel …«, er deutete auf die hinter ihm stehende Monja, »hat mich nur begleitet, weil sie Ihrem Mann auch etwas mitteilen wollte.«
»Wer ist denn da, Beate?«, rief in diesem Moment Wolfgang Gruber von drinnen und erschien gleich darauf hinter seiner Frau in der Haustür.
Charles Didier blickte in ein glattes Gesicht. Klassisch geschnitten, ein wenig markant vielleicht, dunkle, kurze Haare.
Charles’ Blick wanderte zu den Händen seines Gegenübers. Sie waren lang und schlank und wurden von einem schmalen Goldreif geziert. Sieht so der Mann aus, der meiner Frau diese Höllenqualen angetan hat? Haben diese Hände getötet?, fragte er sich. Mit einem Mal fand er die Vorstellung absurd. Dieser Mann mit seinen ordentlichen Beton-Eingangsstufen, seinem glatten Gesicht und seiner biederen Frau passte so gar nicht zu den grauenhaften Szenen, die Marlene ihm geschildert hatte. Andererseits konnte man in Menschen nicht hineinsehen. Charles Didier war ein guter Menschenkenner, aber oft geneigt, nur das Gute in seinem Gegenüber zu sehen und die hässlichen Seiten auszublenden. Er pflegte, die Ecken und Kanten eines Charakters mit seinem Blick weich zu schleifen. Damit war er schon das eine oder andere Mal gewaltig auf die Nase gefallen und hatte das falsche Personal in seiner Feinkost-Firma eingestellt.
Und jetzt war er schon einmal hier. Er konnte schlecht auf dem Absatz kehrtmachen und wieder verschwinden. Zumal ihm Monja Grundel im Nacken saß. Die würde ihm was erzählen, wenn er die ganze Aktion einfach wieder abbräche und ihr hernach erklärte, er könne sich nicht vorstellen, dass die Hände dieses Mannes getötet hätten. Bei der resoluten Monja Grundel würde das sicher nicht sonderlich gut ankommen. »Entschuldigen Sie bitte die Störung«, sagte er zu Gruber. »Wie ich sehe …«, er deutete auf die weiße Leinenserviette in Grubers Hand, »sind Sie gerade beim Mittagessen. Ich würde Sie auch bestimmt nicht stören, wenn es nicht wichtig wäre … Dürfen wir hereinkommen?«
»Natürlich. Wie unhöflich von uns. Bitte entschuldigen Sie.« Gruber warf seiner Frau einen vorwurfsvollen Blick zu, führte seine Gäste ins Wohnzimmer und bat sie, auf der Ledersitzgruppe Platz zu nehmen, da am Nussbaumtisch noch für das Mittagessen gedeckt war. Didier sah zwei halb gegessene Schnitzel auf zwei Tellern, daneben Pommes und Salat. Zwei leere Rotweingläser, silbernes Besteck. Es sah aus wie aus einem Katalog für ›Besser essen‹ und wirkte seltsam unpersönlich. So unpersönlich wie das Zimmer von Marlene, dachte Charles und schauderte unwillkürlich. »Wir wollten Sie wirklich nicht stören«, sagte er verlegen und von der Erinnerung an seine verzweifelte Suche in Marlenes unpersönlichem Zimmer aus dem Gleichgewicht gebracht.
»Wir waren sowieso gerade fertig.« Gruber warf einen Blick auf die Uhr. »Viel Zeit habe ich allerdings wirklich nicht. Ich habe in einer knappen Stunde einen Vortrag zur Familienfreundlichkeit in der Stadt. Ich kandidiere als Oberbürgermeister, wissen Sie?«, fügte er der Vollständigkeit halber hinzu und sagte dann, an seine Frau gewandt: »Beate, bringst du uns bitte einen Kaffee?«
Beate presste die grellrot geschminkten Lippen aufeinander und entschwand.
»Wie kann ich Ihnen helfen, Herr …?«
»Didier«, sagte Charles. »Bitte verzeihen Sie, dass ich mich nicht vorgestellt habe.«
»Herr Didier, was kann ich für Sie tun«, wiederholte Gruber, nun mit leichter Ungeduld in der Stimme.
»Ich bin
Weitere Kostenlose Bücher