Vergissmichnicht
gefesselten Hände entgegen. »Versuchen Sie, den Anfang des Paketbandes zu ertasten«, forderte er sie auf.
Marlene tat, wie ihr geheißen.
»Ich habe den Anfang gefunden«, sagte sie. »Aber er lässt sich nicht gut lösen. Und meine Finger sind sehr schwach und zittern, ich weiß nicht, ob ich das schaffe.«
»Versuchen Sie es«, ermutigte Ole sie eindringlich. »Es ist unsere einzige Chance.«
Aber er wusste, dass es noch eine zweite Chance gab. Alexandra. Er hatte ihr gestern von der Gruber erzählt. Für heute Abend waren sie verabredet. Wenn er dann nicht kam, würde sie versuchen, ihn auf dem Handy zu erreichen, und nervös werden, wenn er sich nicht meldete. Dann würde sie hoffentlich zu seinen Kollegen gehen. Aber erstens war es bis zum Abend vermutlich noch lang – wenn er auch nicht genau sagen konnte, wie lange er ohne Bewusstsein gewesen war – und zweitens wusste er nicht, wie Alexandra tickte, wenn er sich nicht meldete. Sie war eine sehr stolze Frau, das hatte er schon gemerkt. Möglich, dass sie ihm nicht ›hinterherlaufen‹ würde, wenn er sie ›versetzte‹. Andererseits war sie aber auch intelligent und besaß eine gehörige Portion Intuition. Sie würde sich denken können und vielleicht auch spüren, dass etwas nicht in Ordnung war. Natürlich würden auch seine Kollegen misstrauisch werden, wenn er nicht zum Dienst erschien. Aber sie würden nicht wissen, wo sie nach ihm suchen sollten. Und das war der zweite große Fehler gewesen, den er gemacht hatte. Er hätte Monja Grundel, so bärbeißig sie auch sein mochte, über seine Erkenntnisse informieren müssen und er hätte das Verhör auf gar keinen Fall alleine durchführen dürfen. Das war grob fahrlässig. Aber er hatte keine Lust auf ihre dummen Kommentare gehabt. Und außerdem hatte er oft genug erlebt, wie ihre plumpen Verhörmethoden dazu führten, dass sich das Gegenüber verschloss.
»Tun Sie mir einen Gefallen?«, fragte er.
»Ja?«
»Könnten Sie in meinen Hosentaschen und an meinem Hosenbund tasten, ob mein Handy und meine Dienstwaffe noch an Ort und Stelle sind?«
»Sicher.«
Er fühlte zögernde Finger an seinen Seiten herunterwandern. Erstaunlich zielstrebig fanden sie den Weg zu seinen Hosentaschen. Erst die seitlichen, dann die hinteren. Und dann tasteten sie nach einem Gürtel, an dem die Dienstwaffe hängen müsste. »Pardon«, sagte Marlene dann. »Ich finde nichts.«
Er hatte es sich fast gedacht. Sie selbst würde auch kein Handy bei sich haben, sonst hätte sie schon längst Gebrauch davon gemacht. Er fragte sie trotzdem. Wie zu erwarten, verneinte sie. »Dann müssen Sie sich leider weiterhin bemühen, meine Fesseln zu lösen«, sagte Ole.
»Natürlich«, antwortete Marlene.
Eine Weile schwiegen beide.
»Was wissen Sie über die Frau, die uns gefangen hält?«, wollte Marlene wissen.
»Sie heißt Beate Gruber.«
Obwohl er sie nicht sehen konnte, spürte er, wie sie regelrecht erstarrte, als sie den Namen hörte.
»Kennen Sie die Frau?«, forschte er vorsichtig.
»Sie sind deutscher Polizist … Sie hat mich also nach Deutschland gebracht, richtig?«, fragte Marlene.
»Ja«, sagte Ole und wiederholte seine Frage: »Kennen Sie Frau Gruber? Ich meine, kannten Sie sie, bevor sie Sie entführt hat?«
»Wenn sie Gruber heißt, dann ist sie seine Frau!« Marlenes Worte klangen wie ein gequälter Aufschrei durch den Raum.
»Sie waren nur verlobt«, stellte Ole richtig.
»Wer war nur verlobt?«, fragte Marlene verwirrt.
»Carlo Bader und Beate Gruber, ehemals Lieber. Ich dachte, Sie sprächen von ihm, weil Ihre Mutter … nun, sie wollte einer Journalistin von Carlo Bader erzählen und da …«
»Was … was ist mit meiner Mutter? Keiner will es mir sagen! Und warum sprechen Sie von Carlo? Was wissen Sie von ihm?« Marlene klang wie ein gequältes Tier.
»Es tut mir sehr leid, Frau Didier. Ihre Mutter ist tot. Sie wurde ermordet.«
Es war ganz still. Und es blieb ganz still. Ole wartete. Minuten, die sich wie Stunden dehnten. Sie hatte auch aufgehört, seine Fesseln zu lösen.
»Frau Didier?«, fragte er in die Stille.
Als sie antwortete, klang ihre Stimme seltsam verändert. Tiefe Trauer und abgrundtiefer Hass schienen ihren Ausdruck zu bestimmen.
»Ich bin immer davongelaufen und deshalb musste meine Mutter meine offenen Rechnungen mit ihrem Leben bezahlen. Das kann ich nicht mehr ändern, ebenso wenig, wie ich all das Unrecht ändern kann, das ich ihr angetan habe. Aber ich kann dafür sorgen,
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