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Vergissmichnicht

Vergissmichnicht

Titel: Vergissmichnicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva-Maria Bast
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fuhr Marlene, nun mit bebender Stimme, fort und er spürte, dass ihre Hände wieder begannen, an seinen Fesseln zu arbeiten, als brauche sie eine Bewegung, in die sie ihre ganze Wut und ihren ganzen Schmerz lenken konnte. »Während er mir die Verletzungen zufügte, hat er mir geschildert, was er noch alles mit mir machen werde. Ich … ich möchte das nicht wiederholen. Aber ich bin fast gestorben vor Angst und Schmerzen. Und dann, dann hat er mich vergewaltigt.«
    Marlene begann haltlos zu weinen. Ole bewegte reflexartig die Hände, um ihr Trost zu spenden, und stellte fest, dass sie es endlich geschafft hatte, die Fesseln zu lösen. Vorsichtig streckte er eine Hand aus und legte sie auf ihre Schulter. Marlene saß zusammengekauert auf dem Boden, ihr Rücken bebte, den Kopf hatte sie in den Knien vergraben. Ole streichelte hilflos ihren Rücken. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid mir das tut, Frau Didier«, sagte er. »Wie unendlich leid. Aber ich verspreche Ihnen, dass ich alles, wirklich alles dafür tun werde, dieses …«, er konnte nicht an sich halten, »…dieses gotterbärmliche, widerliche, abscheuliche Schwein seiner gerechten Strafe zuzuführen.«
    Marlene schluchzte auf und er spürte, dass sie nickte. »Er ist dann einfach gegangen und hat mich liegen lassen«, sagte sie leise. »Ich weiß nicht, wie lange ich so gelegen habe. Irgendwann, als ich sicher war, dass er weg ist, bin ich nach draußen gekrochen. Und da lag Carlo. Ich habe ihn nicht angefasst, ich konnte es nicht, aber ich hatte das Gefühl, als sei ich über und über mit seinem Blut beschmiert. Wenn ich nicht gewesen wäre, würde er noch leben.«
    Ihre Stimme hatte wieder diese seltsame Monotonie angenommen und sie erzählte weiter: »Ich bin dann zum Bodenseeufer gegangen und in den See gestiegen. Ich hatte das Gefühl, alles von mir abwaschen zu müssen, alle Schande und alles imaginäre Blut. Aber es ließ sich nicht abwaschen, so sehr ich auch schrubbte. Es ist immer noch an mir.« Erneut schluchzte sie auf und Ole musste an Alexandra denken. Auch sie hatte das Gefühl gehabt, sich das Blut von den Händen waschen zu müssen. Im Krankenhaus, aber auch noch Tage danach. Immer und immer wieder ging sie ins Bad und Ole hörte das Wasser rauschen. Und in der Nacht war sie das eine oder andere Mal schreiend aufgewacht. Diese Parallele zwischen den beiden Frauen faszinierte und ängstigte ihn zugleich. Ihm wurde bewusst, wie schutzlos Frauen waren, und so sehr er sich wünschte, Alexandra vor allem Leid der Welt beschützen zu können, wusste er doch, dass er es nicht konnte. Plötzlich sah er noch eine Parallele und die ließ ihm den Atem stocken. Auch Alexandra war mit einem Mann liiert gewesen, der durchaus jähzornige Züge hatte, als sie sich in Ole verliebte. Diese Parallelen waren ihm unheimlich, doch gleich darauf schalt er sich einen Narren. Die Geschichte würde sich nicht wiederholen, alles würde gut werden, dafür musste er sorgen. Es drängte ihn, sofort aufzuspringen und nach einem Ausweg zu suchen, doch er wusste auch, dass er sich nicht abrupt von Marlene abwenden durfte, dass er ganz vorsichtig mit ihr sein musste. Sanft nahm er die Hand von ihrer Schulter und begann, die Fesseln an seinen Beinen zu lösen. Verdammt, saßen die fest. Das Weib hatte Kraft.
    »Die Schande saß tief in mir«, fuhr Marlene tonlos fort. »Ich war schwanger.«
    Das war nun ausnahmsweise keine Überraschung für Ole. »Ich weiß«, sagte er leise. »Ich habe Ihre Tochter kennengelernt. Eine zauberhafte Person.«
    »Wie heißt sie?«, flüsterte Marlene.
    »Stefanie. Stefanie Schwarz. Sie ist verheiratet und sie hat zwei Kinder. Sie … sie ist sehr hübsch, Ihre Tochter. Und sie hat einen netten Mann. Und Ihre Enkelchen … die sind wirklich süß.«
    »Ich bin Großmutter …« Marlene spürte, dass sich dort, wo es sich immer so entsetzlich tot und leer angefühlt hatte, ein warmer Punkt auszubreiten begann.
    »Weiß sie von mir … meine …«, sie brachte die Worte nur schwer über ihre Lippen, »…meine Tochter?«, sagte sie schließlich mit sehr dünner, fast unhörbarer Stimme.
    »Ja«, ließ Ole sie wissen. »Seit Kurzem. Sie wuchs in dem Glauben auf, ihre Großmutter sei ihre Mutter. Erst nach ihrem Tod erfuhr sie, dass dem nicht so ist.«
    »Wie geht es ihr?«, flüsterte Marlene.
    »Ich weiß es nicht. Nicht gut, fürchte ich. Gestern war die Beerdigung.«
    »Oh Gott«, klagte Marlene. »Ich bin schuld. An allem. Am Tod meiner

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