Vergossene Milch
wolltest unbedingt, dass ich einen Block weiter halte, vom Vater zur Schule gebracht zu werden, das wäre das Letzte gewesen. Ich sah dich mit deiner Schultasche gehen, die Füße ein wenig nach innen gerichtet, ab und zu hast du dich umgedreht, bis du dich auf dem Trottoir unter die Mütter, Kindermädchen, Gouvernanten, Chauffeure und Haufen von Schülerinnen mischtest, die aus Autos oder der Straßenbahn ausstiegen. Als Ruhe eingekehrt war, ging ich durch das Eingangsportal und blieb aus alter Gewohnheit ein paar Minuten im Foyer, meinem früheren Warteposten, stehen. Ich ging bis zur Treppe zurück, versetzte mich zehn Jahre zurück, um den Tag noch einmal zu erleben, an dem ich sah, wie Matilde auf dem Handlauf heruntergerutscht kam, worauf sie für eine Woche vom Unterricht ausgeschlossen wurde. Ich ging hinauf zur Schulleitung und ließ mich bei der Mutter Oberin als Vater von Maria Eulália, Schülerin der dritten Grundschulklasse, anmelden. Die Mutter Oberin war entzückt, mich persönlich zu empfangen, da sie noch nicht das Vergnügen gehabt hatte, mich oder meine Frau auf einem Elternabend zu sehen. Ich entschuldigte mich, ich sei einen guten Teil des Jahres geschäftlich auf Reisen, zudem sei ich Witwer, meine Frau habe übrigens auch das Sacré Cœur besucht. Die Mutter Oberin zeigte sich bestürzt zu hören, dass eine ehemalige Schülerin im Wochenbett mit siebzehn Jahren an Eklampsie verschieden sei. Auch äußerte sie tiefstes Mitgefühl für meine Tochter, bei der sie in der Tat während der Pausen schon eine gewisse Schüchternheit beobachtet hatte, um nicht zu sagen, ein menschenscheues Naturell. Und sie pflichtete mir bei, dass es für eine kleine Waise trostreich wäre, Geschichten von Menschen zu hören, die mit ihrer Mutter im selben Gebäude Umgang gehabt hatten, vielleicht gar ihr Klassenzimmer zu sehen, auf ihrer Tafel etwas zu schreiben, sich auf ihren Stuhl zu setzen. Das Treppengeländer hinunterzurutschen, wagte ich einzuwerfen, aber die Mutter Oberin schüttelte den Kopf und lachte. Nur, Matilde, Matilde, also ehrlich gesagt, konnte sie sich an keine Matilde erinnern. Matilde Vidal, hakte ich nach, und ihre Sekretärin Mutter Duclerc, die auf dem Brevier zu schlummern schien, meldete sich, Vidal?
Bien sûr
, und sie zählte auf einen Schlag die Namen von Matildes sechs Schwestern auf: Anna Theresa, Anna Amélia, Anna Christina, Anna Leopoldina, Anna Isabel und Anna Regina. An Matilde vermochte sie sich im Augenblick auch nicht zu erinnern, doch schon richtete sie sich am Schreibtisch auf und konsultierte ihre Kartei. In stummem Tête-à-tête mit der Mutter Oberin suchte ich ihr erstarrtes Halblächeln zu interpretieren, den Blick, mit dem sie mich aus ihren grauen Augen fixierte, ihre ruhige Miene und ihre nervösen Finger, süchtig nach den Perlen des Rosenkranzes. Und für mich stand außer Frage, dass sie alles wusste, über mich, die als Kleinkind verlassene Tochter und das Verhängnis der Mutter. Voilà, sagte Mutter Duclerc, und reichte mir ein Foto der Sekunda im Jahr 1927 . Darauf saßen ein Dutzend Schülerinnen mit im Schoß gefalteten Händen, hinter ihnen standen ebenso viele, die Arme steif an den Körper gedrückt. Es waren Matildes Klassenkameradinnen, ich erkannte ihre Gesichter. Aber sie fehlte, vielleicht war Matilde an diesem Tag vom Unterricht suspendiert.
16
Ich habe Hunger. Die Krankenpfleger hier sind nachtragend, mit Ausnahme von der Schwester, ihr Name fällt mir gerade nicht ein. Wenn sie nicht da ist, muss sich jemand um mich kümmern. Ich brauche kein Brimborium, ich hasse Vertraulichkeit, ich verlange neutrale, professionelle Versorgung. Seien Sie so freundlich und bringen Sie mir mein Guavengelee, ich habe Hunger. Ich habe das Essen auf den Boden gekippt, das streite ich nicht ab, und ich werde das immer wieder machen, wenn das Steak Sehnen hat. Abgesehen davon, dass das Essen nach Knoblauch gerochen hat, warten Sie nur ab, wenn das meine Mutter erfährt. Wenn meine Mutter aus der Messe zurück ist, an mir riecht und feststellt, dass man mir das Essen vom Personal gegeben hat. Denn wenn das Kindermädchen frei hat, ist es immer dieselbe Geschichte, keiner hat mit mir Geduld. Aber ich habe Hunger, und ich bring es fertig und schlage so lange mit dem Kopf gegen die Wand, bis man mir meinen Nachtisch bringt. Und wenn mein Vater fragt, was für eine Beule ich da an der Stirn habe, werde ich ihm erzählen, dass ich hier fast jeden Tag geschlagen werde. Ich
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