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Vergossene Milch

Vergossene Milch

Titel: Vergossene Milch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chico Buarque
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anderes Kind sie um die Taille fassen und stürmisch wie ein Geliebter mit sich fortreißen. Und selbst ich habe im ersten Augenblick gedacht, dass deine Mutter schwanger war, als sie weglief. Ja, eine schwangere Matilde hätte dich vielleicht wirklich nicht mitgenommen, weil sie schon das Kind des Mannes, der sie mir weggenommen hat, im Bauch hatte. Was auch ihr Verhalten in der letzten Zeit erklärt hätte, als sie anfing, sich mir zu verweigern. Deine Mutter wandte sich von allem ab, von einem Tag auf den anderen versiegte ihre Milch, habe ich dir diese Sachen nie erzählt? Dann entschuldige, vergiss es, du hättest es mir sagen sollen, komm, gib mir einen Kuss. Wahrscheinlich habe ich phantasiert, und jetzt will ich gern nur noch von Sachen reden, die du schon weißt. Dass man im Alter dazu neigt, alte Geschichten Wort für Wort zu wiederholen, liegt nicht daran, dass die Seele müde wäre, sondern weil man genau sein möchte. Alte Leute erzählen sich dieselbe Geschichte immer selbst, als machten sie davon Kopien, für den Fall, dass ihnen die Geschichte abhandenkommt. Ich weiß nicht, ob ich dir schon erzählt habe, wie ich Matilde bei der Messe am siebten Tag für meinen Vater kennengelernt habe, als sie Eulálio auf eine Weise aussprach, wie es selbst sinnliche Schauspielerinnen in meinem Bett nicht nachzumachen geschafft haben. Ich glaube, ich habe dir auch schon erzählt, wie ich sie am nächsten Tag beobachtet habe, als sie wie ein Wirbelwind aus der Schule kam, sie war die Dunkelste in der Klasse. Von da an ging ich jeden Tag zu ihr, allein von Matilde im Foyer der Schule habe ich genug Erinnerungen für den Rest meines Lebens. Deswegen war ich so erschrocken, als du ohne anzuklopfen in mein verrauchtes Zimmer kamst, in weißer Bluse und marineblauem Rock, ich konnte mich nicht erinnern, dich jemals in der Schuluniform des Sacré Cœur gesehen zu haben. Du bist mir auf den Bauch gesprungen und hast mich weinend umart, weil sie in der Schule verbreitet hatten, du seist die Tochter einer Bettlerin. Ich reagierte hilflos, ich wälzte mich auf dem Bett und du mit den Schuhen auf meinen Illustrierten, in denen sich exotische Frauen als Matilde ausgaben. Und du konntest nicht aufhören zu weinen, weil du zum Gespött geworden warst, es hieß sogar, die barmherzigen Schwestern hätten dich in einer Mülltonne gefunden. Ich ordnete meine Kleidung, sammelte die Illustrierten ein und sagte, schon gut, schon gut, mein Kind, schon gut, schon gut, ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich bedauerte, dass ich deiner Mutter nicht den Wunsch erfüllt hatte, sie hatte selbst bei einem Fotostudio in der Stadt angerufen, wo wir alle drei für ein Foto fürs Familienalbum posieren sollten. Matilde beklagte sich zu Recht, wir besaßen nicht einmal das klassische Hochzeitsfoto, aber ich verschob das Studio immer wieder, und dann ging alles schief. Schon gut, schon gut, mein Kind, schon gut, schon gut, ich strich dir jetzt durch das helle Haar, und es gab wirklich nichts an dir, weswegen man hätte sagen können, du liebe Zeit, die ist der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Muffig riechende Kleider im Schrank oder verrosteter Modeschmuck in der Schublade, die mir, ob ich wollte oder nicht, als Andenken geblieben sind, all das hatte für dich keine Bedeutung. Dann dachte ich, Matildes Familie müsse wenigstens ein Foto von ihr als Kind aufbewahrt haben, vielleicht eine Aufnahme von der ersten Kommunion, das du deinen Schulkameradinnen zeigen könntest. Am späten Nachmittag fuhr ich zu Mama, die Matildes Mutter zum Tee zu Besuch hatte, und ich hörte ihre jammernden Stimmen im Wintergarten: sie … was sie treibt … ihr Umgang … ihr Schicksal … Als ich hereinkam, wechselten sie das Thema, sprachen davon, dass ein neuer Krieg in Europa drohte, und von den Flüchtlingswellen, die täglich im Land eintrafen: In Copacabana, Maria Violeta, hört man nur Deutsch und Polnisch … dieses Volk, Anna Theodora, alles Leute aus diesem Volk … Ich nutzte die erste Pause und bat Dona Anna Theodora um ein kleines Andenken an ihre Tochter, irgendein Foto, nur für ein paar Tage, aber sie senkte den Blick und machte sich über ihre Brioche her. Und Mama klingelte mit dem Glöckchen und wies Auguste an, mein Auto vorzufahren, weil ich gehen wolle. Nun gut, am nächsten Tag beschloss ich, dich zur Schule zu bringen, das weißt du bestimmt noch, du wurdest ganz aufgeregt, denn du warst noch nie in meinem Auto gefahren. Aber du

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