Verhängnisvoll - Felsing, K: Verhängnisvoll
Er sieht die Bilder vor sich, die verblasst in den ovalen Rahmen stecken. Auf der linken Seite lächeln zwei Frauen dem Betrachter entgegen. Er hat sie auf den ersten Blick erkannt, sie sehen kaum gealtert aus, trotz der Jahre, die ihm in ihrer Entwicklung fehlen.
Rechts steckt ein Kinderfoto. Es ist eine Kopie dessen, das er in seiner Wohnküche im Container an der Wand hängen hat. Vier Kinder, aufgereiht wie die Orgelpfeifen. Nur eines stimmt nicht mit seiner Abbildung überein. Auf der Miniatur im Anhänger hat jemand ein Schwert eingezeichnet und es stößt der Länge nach vom Kopf aus durch eine der Personen. Durch ihn! Sie hassen ihn. Sie hassen ihn noch immer, dabei hat er stets nur ihr Bestes gewollt.
„Sally und Tami Ogan.“ Er lacht, und es klingt wie das Scheppern einer blechernen Trommel in den eigenen Ohren. „Sally spielt in einer Band.
New Angels!
Ich will, dass ihr die beiden hierher schafft!“
Zufrieden vernimmt er das leise Rasseln der Klapperschlange.
Reese brauchte unbedingt Luft. Sie liebte Alana, sie mochte Nate, und Natana lag ihr am Herzen wie ein eigenes Kind. Dennoch kam sie sich innerlich und äußerlich vor wie in einer Umklammerung, die ihr den letzten Rest Atem aus dem Leib presste. Sie spürte nur zu deutlich, dass sie einem Zusammenbruch nahe war und wunderte sich, dass Alana ihr dies nicht längst vorgemacht hatte.
Sie schob ihre Schwester sanft zurück und warf Nate einen bittenden Blick zu. Er verstand und trat an sie heran, um Alana in die Arme zu nehmen.
„Ich muss schon seit Stunden“, murmelte sie und hoffte, dass Alana nicht auf den Gedanken kam, sie zur Toilette begleiten zu wollen. „Bin gleich wieder da, okay?“
Reese huschte zur Tür, doch kaum hatte sie den Konferenzraum verlassen, sackte sie mit den Schultern gegen die nächste Wand. Der Jetlag überfiel ihre müden Knochen mit einer Gewalt, die sie in die Knie zwingen wollte. Obwohl sie auf dem Flug ein paar Stunden geschlafen hatte, konnte von Erholung für den Körper keine Rede sein.
Sie schleppte sich voran, bis sie das WC erreichte. Ihre Kraft erlaubte es kaum, die schwere Schwingtür aufzudrücken. Sie fuhr mit den Fingern den Kragen ihrer Bluse entlang, um die Hitze unter dem Stoff entweichen zu lassen. Es half nicht.
Das alles war zu viel, um es ertragen zu können.
Sie wankte mehr zu der langen Marmorplatte mit den eingelassenen Waschbecken, als dass sie kontrolliert einen Fuß vor den anderen setzte, und war froh, als ihre Arme Halt fanden und sie sich abstützen konnte. Ihre Hände zitterten, obwohl sie krampfhaft versuchte, sie bewegungslos auf das kühle Marmor zu pressen. Irgendwann schaffte sie es, eine wischende Bewegung unter der Armatur auszuführen und den Mechanismus in Gang zu setzen. Sie schöpfte mit beiden Händen Wasser ins Gesicht.
Verschwommen nahm sie wahr, wie jemand den Raum betrat und zu den WC-Kabinen stöckelte.
Bleib nicht stehen
, dachte sie,
geh einfach wieder
. Dabei wusste sie genau, dass die Frau sie wahrscheinlich mit einem Ausdruck von Neugierde musterte und sich Fragen stellte, die Reese nicht hören wollte. Auf keinen Fall wollte sie jetzt auch noch angesprochen und nach ihrem Befinden gefragt werden.
Geh weg!
Sie zupfte blind einige Kosmetiktücher aus dem Wandbehälter und drückte das Gesicht hinein. Als sie die Hände sinken ließ, starrte ihr ein bleiches Antlitz aus dem Spiegel entgegen, das ihr fremd war. Sie erkannte sich kaum wieder. Blauviolette Ringe lagen unter den Augen, tief in den Höhlen versunken. Die blasse Haut untermalte die Schatten, ließ sie hervortreten wie schillernde Veilchen. Reese zupfte ein paar Haarsträhnen in die Stirn. Hätte sie doch nur ihre Handtasche und eine Puderdose dabei. Nicht einmal eine Bürste hatte sie zur Hand, um dem Storchennest auf ihrem Kopf Herr zu werden.
Sie hörte die Toilettenspülung, das Klappern einer Tür, Schritte.
Geh weg!
Wasser rauschte in dem Waschbecken neben ihr. Reese schloss die Augen.
Geh weg!
„Entschuldigung, ich möchte mich nicht aufdrängen. Aber kann ich etwas für Sie tun? Brauchen Sie Hilfe?“
Die Tränen kamen wie von allein, brachen sich einen Damm, den sie mühsam versucht hatte, aufrecht zu halten. Sie rollten ihre Wangen hinab, perlten über die Lippen, ließen sie das Salz schmecken und es flossen unaufhaltsam immer mehr, bis die Flut in einem rauen Schluchzen brach und ihre Schultern unkontrolliert zu zucken begannen.
„Oh mein Gott. Darling, was ist denn
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