Verhängnisvoll - Felsing, K: Verhängnisvoll
los?“, sagte die Frau und nahm Reeses Ellbogen. „Kommen Sie, setzen Sie sich einen Moment.“ Sie führte sie zu einem Hocker.
„Ich muss mein Haar richten … ich …“ Reese heulte. „Ich brauche Puder und Lippenstift und Parfüm.“ Sie ruderte mit den Armen, versuchte, sich von dem Hocker zu erheben. Schwindel presste sie nieder. Ein Aufschrei schoss ihr aus der Kehle und öffnete ein weiteres Ventil. Wie ein Luftballon, dem brausend die Luft entweicht, sackte sie in sich zusammen und ließ den Oberkörper auf die zuckenden Beine fallen. Sie ergab sich dem Kummer und versuchte nicht mehr, die Tränen einzudämmen.
Die Welt um sie herum versank in gnädiger Dämmerung.
Die Gedanken flossen immer träger durch Natanas Kopf, während sie spürte, dass sie die Müdigkeit nicht mehr lange bewältigen würde. Seit Sonntagmorgen, zehn Uhr, hatte sie kein Auge zugetan. Vierunddreißig Stunden – das sollte sie eigentlich abkönnen, aber unter diesen Umständen? Immer wieder drohte ihr Kopf, haltlos nach vorn oder zur Seite zu sacken und in letzter Sekunde schaffte sie es, in Bewegungslosigkeit zu verharren, sich des Messers und des brennenden Schmerzes der Druckstelle an ihrer Kehle bewusst.
„Wir tun, was wir können. Sagen Sie mir Ihren Namen.“
Sie kannte die Stimme des Mannes draußen nicht, aber sie klang warm und vertrauenerweckend. Ein winziger Lichtschein in beklemmender Finsternis.
„Ihr werdet es ohnehin erfahren, also was soll’s. Ben Ogan.“
„Woher kennen Sie die Frauen?“
„Es sind meine Schwestern. Ich will sie hierhaben und zwar schnell, kapiert?“
Natana schrie gegen das Klebeband vor ihren Lippen, als er die Faust in ihr Haar grub und ihren Kopf nach hinten riss.
„Das Messer sitzt genau an der Kehle. Ihr solltet besser Gas geben.“
„Wir brauchen Zeit, das wissen Sie so gut wie wir.“
„Die habt ihr aber nicht. Besser, ihr schafft es, ehe ich zu müde werde. Ich schwöre, ehe ich einschlafe, nehme ich alle mit hier.“
„Haben Sie weitere Anhaltspunkte, wie wir Ihre Schwestern finden können?“
„Ihr werdet doch in der Lage sein, eine verdammte Band aufzutreiben. Kümmer dich am besten selbst darum, ich will deine Stimme nicht mehr hören, Arschloch!“
Natana lauschte in die Stille.
Der Mann erwiderte nichts mehr. Was auch? Es war alles gesagt. Schafften die dort draußen es nicht, Ben Ogans Forderung zu erfüllen, sah es schlecht für sie aus. Sie wollte die aufkeimende Hoffnung nicht verlieren und noch einmal mit dem Leben abschließen. Das hatte sie bereits getan, nachdem ihr Angriff mit der Glasscherbe danebengegangen war.
Ein verdammt beschissenes Gefühl, das sie nicht erneut erleben wollte. Sie hoffte nur, dass es wenigstens schnell gehen würde und unerwartet käme. Auf den sicheren Tod zu warten wie heute Mittag würde sie nicht durchstehen, ohne den Verstand zu verlieren.
Beinahe hätte sie gelacht. Spielte das eine Rolle, drei Sekunden, bevor sie in Fetzen gerissen würde?
Ihr Gesicht tat weh, noch genauso heftig wie der Fausthieb selbst, den er ihr an der Telefonbox verpasst hatte. Ihre Hand war geschwollen und die Schnittwunde gerötet. Seit das Einsatzkommando aufgetaucht war, fühlte sich der Schmerz nur noch halb so schlimm an. Die Männer würden sie befreien, an den Silberstreifen musste sie sich klammern und fest daran glauben. Sie musste die Klinge am Hals ignorieren, die ihr die Zuversicht bei jedem Atemzug rauben wollte.
Wie in Zeitlupe lief immer wieder das Geschehen vor ihrem inneren Auge ab und schüttelte ihr Innerstes. Sie wagte nicht, an etwas anderes zu denken, weil sie fürchtete, wegzudämmern. Sie musste am Leben bleiben und die beiden anderen auch.
Dem Mädchen ging es zusehends schlechter. Viel schlechter als Sybil oder ihr. Sybil Myers befand sich nicht in der Verfassung, der Kleinen zu helfen. Dabei müsste sie dringend in eine andere Position gebracht, ihre Fesseln gelockert werden, sonst würde sie ersticken. Sah dieser verdammte Kerl das nicht?
Wahrscheinlich war es ihm scheißegal.
Während der Fahrt hatte sie die Wunden der beiden notdürftig verbunden und versucht, so viel wie möglich an Informationen aus Sybil herauszubekommen, aber weitergebracht hatte sie das nicht. Keine der Wunden erschien ihr lebensgefährlich, jedenfalls würden die zwei nicht verbluten.
Das Mädchen befand sich dennoch in einem jämmerlichen Zustand. Wahrscheinlich hatte sie schon seit Längerem nichts mehr zu essen und zu trinken
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