Verhängnisvoll - Felsing, K: Verhängnisvoll
weiß es.“
Mit einem Ruck schob Nat die Tastatur von sich und drehte sich zu ihrer Mutter um. „Seit dem Besuch bei der Polizei hat sich nichts Neues ergeben. Wie willst du wissen, wie es ihr geht?“ Sie presste die Lippen aufeinander, weil sie spürte, sie könnte ein Zucken, das unterdrückte Tränen verraten würde, sonst nicht verhindern. Die Wut über ihre Hilflosigkeit zu bändigen, fiel schwer. Sie liebte Mom über alles – und Reese wahrscheinlich nicht mal ein klitzekleines bisschen weniger. Seit sie denken konnte, war es fast, als hätte sie zwei Mütter. Oder eine doppelte, das hatte sie manches Mal nicht unterscheiden können und sogar ab und an den Eindruck gehabt, die beiden würden sich ihr absichtlich nicht zu erkennen geben. Jede Mutter sollte ihre Zwillinge auseinanderhalten können und eigentlich auch ein Kind seine eigene Mutter und deren Zwillingsschwester, doch obwohl Nat gerade das manches Mal nicht zweifelsfrei gelungen war, jedenfalls so lange, bis Mom oder Reese den Mund aufmachten, machte es ihr nichts aus. Die beiden glichen sich wie perfekte Duplikate. Selbst bei genauem Hinsehen – wie bei zwei Bildern als Original & Fälschung, bei denen man die Fehler suchen musste –, fand man keine Unterschiede. Vielleicht allenfalls, wenn eine von beiden frisch vom Friseur kam – und man wusste, wer hingegangen war.
Mom legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Ich habe schon immer eine besondere Verbindung zu Reese gehabt. Es geht ihr gut, das spüre ich.“
„Blödsinn!“ Nat schob die Hand ihrer Mutter beiseite und stand auf. „Ich glaube nicht an die Kacke mit telepathischer Verbindung zwischen Zwillingen und so …“ Sie schnaufte. „Alles nur Einbildung!“
„Schau“, sagte Mom ruhig, „erinnerst du dich an den Urlaub in Florida?“
Natana nickte.
„Ich bekam irre Bauchschmerzen und musste ins Krankenhaus. Sie haben mir den Blinddarm rausgenommen und hinterher festgestellt, dass er überhaupt nicht entzündet war.“
„Ja ja, ich weiß. Und gleichzeitig hat Reese in L. A. im General Hospital gelegen und ihr ist der entzündete Blinddarm rausgenommen worden. Dummer Zufall! Kitsch! Albernes Klischee!“ Mom brauchte nicht mit weiteren Argumenten anzukommen, sie kannte die Geschichten alle und hielt sie für Hirngespinste, egal, was sich Mom und Reese einbildeten. Sie waren beide der felsenfesten Überzeugung, einen armdicken, unsichtbaren Draht zueinander zu haben, für den es keine rationale Erklärung gab.
„Dann sag mir, wo Reese ist.“ Nat blieb vor ihrer Mom stehen und stemmte die Fäuste in die Hüften. „Kannst du nicht, nicht wahr?“
„Natürlich nicht, Babe. Ich bin ja keine Wahrsagerin. Trotzdem bin ich sicher! Reese ist nichts zugestoßen und sie wird sich bald melden.“
„Ach, verdammt!“ Nat zupfte ein Taschentuch aus ihrer Jeans und drückte es vor die Augen. Dieses Mal wehrte sie sich nicht, als Mom den Arm um sie legte.
„Glaubst du nicht, Reese fände es blöd, wenn sie wüsste, dass du vor Sorge halb umkommst?“ Sie streichelte Nats Rücken. „Wir werden jetzt schön Essen gehen und fahren anschließend zum
Beady Eye
Konzert. Du hast dich doch seit Monaten darauf gefreut.“
„Ich mag sie nicht mehr, seit sie nicht mehr
Oasis
sind.“
„Ich weiß, dein Liebling war Noel Gallagher.“
„Quatsch.“ Natana befreite sich aus der Umarmung. „Der ist ja noch greiser als du.“
„Trotzkopf.“
„Ich wollte da nur mit hin, damit du nicht in deinem Alter noch zum Groupie wirst und mich blamierst.“
„Ich hab da noch stundenlang nonstop
Wonderwall
im Ohr.“
„Ist Ewigkeiten her.“
„Schwindlerin.“
„Na und? Okay, ich steh auf Oldies, geb ich ja zu.“
„Komm schon, Babe. Mach dich hübsch und lass uns losziehen.“
„Hey, ich brauch nicht in die Maske wie du.“
Mom lachte und kam mit gespreizten und ausgestreckten Fingern auf sie zu. „Hexe.“
Nat flüchtete. An der Tür zum Badezimmer drehte sie sich um. „Meinst du wirklich, wir sollten gehen?“
„Aber schleunigst, damit du auf andere Gedanken kommst.“
Nat bürstete ihr glattes Haar, bis es seidig glänzte. Es fiel ihr bis knapp unter die Schulterblätter. Mit dem schnurgeraden Pony erinnerte ihr Spiegelbild an Kleopatra. Das tiefe Schwarz war nicht gefärbt, sie hatte die Haarfarbe von Dad geerbt. Mom würde ihren weißen Hosenanzug tragen und Nat besaß den gleichen in Schwarz. Schon vor Wochen hatten sie besprochen, was sie anziehen wollten. Sie würden
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