Verhängnisvolles Gold
sein Gewicht ein bisschen und der Druck seiner Finger lässt nach. »Wenn ich das Wetter beeinflussen könnte «, fügt er hinzu, »dann würde ich dafür sorgen, dass es warm ist. Dir fehlt die Wärme, nicht wahr?«
»Ja.« Ich ziehe meinen Mantel ein bisschen enger um mich. »Na, wenigstens ist es kein Schneesturm. Das ist die Lichtseite, nicht wahr? Ich versuche immer die Lichtseite zu sehen.«
Seine Hand fährt mir über den Hinterkopf. Es ist fast eine väterliche Geste. Seine Stimme klingt liebevoll. »Du siehst doch immer die Lichtseite. Sonst hättest du längst aufgegeben.«
Ich zucke die Achseln. Auch diese Bewegung zerrt an der genähten Wunde. »Vielleicht.«
»Tut weh, was?«
»Ein bisschen«, antworte ich.
»Ich finde es unerträglich, dass du verletzt bist.« Der Satz klingt wie ein Knurren.
»Unerträglich?« Ich muss unwillkürlich lächeln. »Die meisten Leute würden ›zum Kotzen‹ sagen.«
»Ich bin nicht die ›meisten‹, und ich bin nicht ›Leute‹.« Er richtet sich auf. Ich spüre, wie sich seine Muskeln anspannen, und diese Anspannung klingt in seiner Stimme mit.
Eine Sekunde lang bleiben wir so vor einem sehr eindrucksvollen Stadthaus aus weißem Granit stehen. Es ist vier Stockwerke hoch und der erste und zweite Stock wölben sich in einer halbkreisförmigen Ausbuchtung hervor. Die gesamte Fassade ist mit kunstvoll geformten, eingravierten Efeublättern und Herzen geschmückt. Drei gigantische Fenster beherrschen jedes Stockwerk, im Erdgeschoss allerdings gibt es nur zwei vergitterte Fenster zu beiden Seiten einer Tür aus dunklem Holz. Die Tür sieht aus, als wäre sie so schwer, dass Issie (oder ich vor meiner Verwandlung) sie nicht allein öffnen könnte. Die vier Stufen, die hinaufführen, haben eine Art schmiedeeisernes Geländer, nur dass es nicht aus Eisen ist, sondern aus angestrichenem Holz, in das komplizierte Muster geschnitzt sind. Es passt überhaupt nicht zu dem eleganten Haus. Ob Astley sich als Elfenkönig wohl auch manchmal so fühlt, als passe er nicht dazu?
»Hast du dir jemals gewünscht, ein Mensch zu sein?«, frage ich.
Er antwortet nicht, sondern schaut an dem Gebäude hinauf.
Wir stehen vor dem Zuhause seiner Mutter. Unter dem üblichen Stadtgeruch nach Kanalisation und Autoabgasen liegt der Duft von Dove-Seife. Auch ohne den Duft, der in meiner Nase kitzelt wie eine Allergie, spüre ich, dass wir da sind. Aber Astley rührt sich nicht von der Stelle. Er zögert – das ist offensichtlich –, und sein Zögern macht mich nervös. Sonst ist er doch auch immer so verdammt selbstsicher, so verdammt frei von jeder Angst. Er ist nicht der Typ Elf, der zögert. Eigentlich sind sie das alle nicht. Sie sind alle wie Nick, voller Tatendrang, Entschlusskraft und Selbstvertrauen.
Aber jetzt nicht.
»Ist sie so schlimm?«, frage ich so sanft wie möglich und muss an seine Reaktion auf meine Mutter denken.
Er nickt, und dieses Nicken drückt den ganzen Schmerz zerstörter Lebenspläne und tiefste Verzweiflung aus. Ich weiß, wie sich das anfühlt, aber ich hätte nie gedacht, es bei ihm zu sehen. Jeder hat so viele verschiedene Seiten und trägt so viel seelischen Schmerz und tief sitzende Angst in sich und manche verbergen das wie Astley so gut, dass es einem den Boden untern den Füßen wegzieht, wenn eine kleine, simple Bewegung wie ein Nicken alles zu Tage fördert.
Kein Wort dringt aus Astleys Mund. Ungefähr einen Block weit entfernt drückt ein Taxifahrer auf die Hupe und der zornige Ton kriecht durch die Straßen. Die Kälte frisst sich auf einmal bis zu meinen Knochen vor und wühlt darin herum.
»Sie ist keine gute Mutter. Sie ist …« Astley bricht mitten im Satz ab und schaut an der soliden Wand aus Granit und Fenstern mit den eingeätzten feinen Mustern hinauf. Obwohl alles so kunstvoll verziert ist und die beiden Stockwerke sich hervorwölben, wirkt das Gebäude flach. Er atmet tief ein. Hinter uns pflügen Autos durch den nassen Matsch auf der dunklen Straße. Über uns grollt der Donner.
»Alles in Ordnung mit dir?« Ich richte mich auf, damit meine Rippen ein bisschen weniger wehtun.
Er schüttelt sich fast wie eine Katze, wenn sie sich schmutzig fühlt, und schenkt mir buchstäblich ein halbes Lächeln: Nur die linke Hälfte seiner Lippen geht nach oben.
»Ich übertreibe. Alle Männer haben Probleme mit ihren Müttern. Ich bin da keine Ausnahme.« Er geht auf die Stufen zu. »Ich muss mich noch einmal entschuldigen. Es ist nicht fair
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