Verheißung Der Nacht
ist. Er war im St.-Francis-Krankenhaus zur Bestrahlung. Seine Schwester fährt ihn immer dorthin, weil seine Frau arbeiten muss ...«
»Was ist denn mit dem Mädchen, Tante Sara?« fragte Cammie scharf. Ihre Hand, die den Hörer umklammerte, war ganz taub.
»Ich komme ja gleich dazu, Cammie. Wie es scheint, hat die Dame gesehen, wie dieses junge Mädchen aus ihrem Wagen gestiegen und in den Wagen eines Mannes eingestiegen ist. Sie hat sie erkannt, weil Janets Familie früher in ihrer Nähe gewohnt hat, ehe Janet heiratete. Sie schwört, dass es ein Jeep war, in den Janet eingestiegen ist, und dass der Fahrer des Jeeps Reid Sayers war.«
Dass irgend jemand in Greenley etwas beobachtete, was ein anderer zu verbergen versuchte, überraschte Cammie nicht. Es gab keinen Ort in der näheren Umgebung, der sicher genug war, um heimlichen Tätigkeiten nachzugehen, angefangen von zwielichtigen Geschäften bis hin zu einem Nachmittag unerlaubter Freuden. Die Leute aus der Stadt waren zu mobil, zu aktiv und viel zu sehr an ihren Freunden oder Nachbarn interessiert. Irgend jemand sah immer etwas. Und irgend jemand erzählte es dann auch weiter. Und so verbreiteten sich die Gerüchte.
Was hat Reid getan? fragte sich Cammie. Hatte er die Anwaltsgehilfin in einem Motel in Monroe untergebracht? Hatte er sie zu einem Busbahnhof gefahren? Hatte er sie weit genug von der Stadt weggebracht, damit sie einen Wagen mieten und den Staat verlassen konnte? Oder hatte er sie mit genügend Geld versorgt, damit sie ein neues Leben beginnen konnte?
Oder, diese Möglichkeit bestand auch, würde ihre vergrabene Leiche in einem oder zwei Jahren irgendwo in einem Versteck entdeckt werden?
Nein, das konnte Cammie nicht glauben, sie wollte auch gar nicht an eine solche Möglichkeit denken.
»Cammie? Bist du noch da, Liebes? Ich wollte dich nicht aufregen.«
»Was wolltest du dann?« Sie hörte den unterdrückten Ärger in ihrer Stimme, doch sie konnte sich nicht zurückhalten.
»Jack meinte, dass du die Wahrheit wissen solltest. Es wäre nicht gut, meinte er, wenn du dich mit diesem Mann einlassen würdest. Ich meine, du weißt doch, wer Reid Sayers ist - du weißt, aus welcher Familie er kommt. Und er war so lange von hier weg, dass er jetzt zum Außenseiter geworden ist. Man hört die eigenartigsten Geschichten über ihn - man kann sich gar nicht vorstellen, wozu er alles fähig ist. Das darfst du nicht vergessen.«
»Ich bezweifle, dass das überhaupt möglich ist.« Selbst wenn sie es schaffte, es gäbe immer jemanden, der es ihr wieder in Erinnerung rufen würde.
»Vielleicht sollte ich deinen Onkel zu dir rüberschicken, damit er mit dir reden kann. Du weißt, auch er hat Enttäuschung und Schmerz ertragen müssen. Sein Einsatz in Vietnam, die Kämpfe, als der liebe Gott ihn prüfte für sein Kirchenamt, hat in ihm ganz besonderes Verständnis geweckt für den Kummer, den wir alle ertragen müssen. Er verbringt viele Stunden - manchmal sogar Tag und Nacht - damit, den Menschen Hilfe und Trost zu spenden.«
Cammie hatte die Geschichte über die Berufung ihres Onkels zum Kirchenamt und seine Aufopferung in Ausübung seiner Pflichten schon oft gehört. »Es gibt nichts, womit ich nicht fertig werden könnte, Tante Sara. Ich bin dir dankbar, dass du mir das alles erzählt hast, aber du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen.«
Der Ton ihrer Stimme sagte ihrer Tante, dass die Unterhaltung damit beendet war. Ihre Tante akzeptierte es ohne Widerspruch. »Nun, dann will ich dich nicht länger aufhalten. Lass von dir hören, und ruf uns an, damit wir wissen, dass es dir gutgeht. Und komm uns mal besuchen.«
Cammie stimmte zu und sprach ihrerseits auch eine Einladung aus, die genauso bedeutungslos war wie die, die sie gerade bekommen hatte. Dann legte sie den Hörer auf.
Was diese Frau da gesehen zu haben glaubte, war falsch, es musste ganz einfach falsch sein. Oder jemand mit einer übergroßen Phantasie hatte dieses häßliche Gerücht in Umlauf gesetzt. Janet Baylor mochte zusammen mit einem Mann gesehen worden sein - das war sogar ziemlich wahrscheinlich -, aber das bedeutete noch lange nicht, dass dieser Mann Reid war.
Immerhin hatte er ihr ziemlich deutlich erklärt, dass er mit Janets Verschwinden nichts zu tun hatte. Oder doch?
Sie konnte sich nicht mehr an seine genauen Worte erinnern. Es war möglich, dass er in ihr nur den Eindruck erweckt hatte, dass es keine Verbindung zu der jungen Frau gab.
Nein, es konnte nicht sein.
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