Verheißung des Glücks
Liebeserklärungen.
Melissa rechnete mit einigen Klagen. Immerhin hatte Lincoln derzeit viel zu erdulden. Sie schnitt das Thema jedoch erst an, als das Meer in Sicht kam. Hoch oben auf einer Klippe brachten sie die Pferde zum Stehen. Von dort bot sich ein herrlicher Blick über das Wasser und eine felsige Bucht. Ian stieg vom Pferd. Er wollte nachsehen, ob es einen sicheren Pfad hinunter zum Strand gab oder ob sie noch ein wenig weiter nach Westen reiten mussten.
»Wie kommst du denn zurecht?« fragte Melissa Lincoln. »Bist du inzwischen so weit, dass du jemanden umbringen könntest?«
»Woher soll ich das wissen? Angeblich habe ich doch schon vor zwei Tagen den Verstand verloren.«
»Pah! Nun machst du dich über mich lustig.«
»Keinesfalls, sonst hätte ich deine Frage mit Ja beantwortet.«
Melissa seufzte, stieg ebenfalls aus dem Sattel und ging zum Rand der Klippe. Ein Windstoß erfasste ihren Rock, sodass sie ihn mit beiden Händen festhalten musste. Ihre Frisur war nicht mehr zu retten. Der böige Wind hatte ihr Haar in eine wild zerzauste Mähne verwandelt.
Sie starrte auf das bleigraue Wasser und die dunklen Wolken, die tief über der Bucht hingen. »Es tut mir Leid.«
»Psst! Du kannst doch nichts dafür, dass du von einem Haufen Barbaren abstammst«, raunte Lincolns Stimme hinter ihr.
Sie schnappte nach Luft und fuhr herum. Doch dann sah sie sein Grinsen. Er stand ganz nahe bei ihr. Der Wind trieb auch mit Lincolns Haar sein Spiel. Die schwarzen Strähnen fielen ihm in die Augen und tanzten um seinen Kopf. Wieder einmal staunte Melissa darüber, wie stürmisch es an der Küste war. Und wie kalt.
Lincoln legte ihr die Hände auf die Schultern und wollte sie an sich ziehen, doch Ians Stimme beendete diesen Augenblick der Zweisamkeit, noch bevor er recht begonnen hatte.
»Hier drüben ist ein Pfad«, rief er. »Ich kenne ihn von früher, und es gibt ihn tatsächlich noch.«
»Du warst früher schon einmal hier?«, fragte Melissa.
»Das ist lange her. Charlie, Neill und ich unternahmen gelegentlich Ausflüge in die weitere Umgebung. Einmal folgten wir fünf Stunden lang der Küstenlinie. Dabei entdeckten wir sogar ein paar Höhlen in den Klippen. Jedenfalls nannten wir sie so. Eigentlich sind es eher Vertiefungen, die die wilde See bei ihrem endlosen Tanz um die uralten Felsen in die Klippen geschliffen hat.«
»Wirst du auf deine alten Tage etwa poetisch?«, neckte Melissa ihn.
»Nein, ich finde nur, es klingt besser, als wenn ich von ein paar ausgewaschenen Löchern im Strandgestein sprechen würde. Die Pferde müssen wir hier lassen. Der Pfad ist ein wenig zu schmal für sie.«
»Lohnt es sich denn, zum Strand hinunterzusteigen?«, fragte Lincoln.
»Es ist ganz interessant da unten. Man kann vielleicht keine Schätze finden, aber immerhin Treibgut und Muscheln. Außerdem habe ich dann etwas zu tun, während ihr eure Bekanntschaft vertieft.«
»Worauf warten wir noch?«
Sie stiegen in die felsige Bucht hinunter. Dort traten die Klippen ein wenig von den tosenden Wellen zurück und bildeten einen Halbkreis, der die Bucht auf beiden Seiten begrenzte. Wer sie zur Meerseite hin verlassen wollte, musste entweder schwimmen oder ein Boot haben. Das machte diese Bucht zu einem sehr abgeschiedenen Fleckchen Erde. Unten angekommen wünschten Melissa und Lincoln sich, Ian wäre nicht bei ihnen. Die Einsamkeit dieses Ortes war wie gemacht für ein paar Stunden voller Zärtlichkeit und Leidenschaft.
»Gibt es hier auch Höhlen, Ian?«, fragte Melissa, um ihren Gedanken eine unverfänglichere Richtung zu geben.
»Ja, eine. Der große Felsblock dort drüben verdeckt den Eingang.«
Melissa wollte die Höhle sehen. Tatsächlich gab es einen Uberhang aus Erde und Gestein, auf dem ein paar zerzauste Grasbüschel sprießten. Darunter gähnte ein dunkles Loch. Man würde beinahe kriechen müssen, um hinein zu gelangen.
»Glaubst du, da drinnen gibt es etwas zu sehen?«
»Ein paar Seeigel und eine Handvoll Spinnen wahrscheinlich.«
Melissa lachte. »Ein wahres Paradies für kleine Jungen also. Ich glaube, ich bleibe lieber hier draußen an der frischen Luft und — oh, was war denn das?«
Der Wind trieb den Regen so schnell übers Meer in die Bucht, dass keiner von ihnen den Schauer hatte kommen sehen. Niemand fragte mehr, ob es sich lohnte, das finstere Loch zu erforschen. Sie zwängten sich kurzerhand hinein. Die Höhle war tatsächlich kaum mehr als eine Kuhle im Fels. Mit etwas Mühe konnten sich
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