Verheißung des Glücks
innere Ruhe. Diese Angstträume tauchten auf wie ungeliebte alte Bekannte, die hin und wieder zu einem ungebetenen Besuch erschienen. Melissa ärgerte sich lediglich, dass sie noch immer ihren Schlaf störten, obwohl sie nun kein Kind mehr war.
Da sie nun schon einmal wach war, gewann die Neugier die Oberhand. Vorsichtig öffnete sie ihre Tür einen Spalt breit und spähte hinaus. Und tatsächlich, ein Stück den Flur entlang saß einer ihrer Onkel auf einer Bank und las im fahlen Schein einer einzelnen Kerze in einem Buch. Im ersten Augenblick dachte Melissa daran, hinauszugehen, um herauszufinden, was dann geschehen würde. Würde ihr Onkel sie einfach wieder in ihr Zimmer schicken oder gleich ihren Vater herbeiholen?
Seltsamerweise hatte sie bisher gar nicht daran gedacht, sich nachts zu Lincoln zu schleichen. Erst der Wachposten ihres Vaters brachte sie auf diese Idee. Stattdessen hatte sie einen völlig harmlosen Plan geschmiedet, der es Lincoln und ihr erlauben würde, tagsüber eine Weile miteinander allein zu sein, und sie wollte ihn schon am kommenden Morgen in die Tat umsetzen.
Ian Six sollte mit ihr ausreiten und Lincoln bitten, sie zu begleiten. Solange ein Anstandswauwau bei ihnen war, würden ihre Eltern sicher nichts dagegen haben, und Ian Six hatte bereits versprochen, den jungen Liebenden ein wenig Zeit zu gewähren, damit sie allein miteinander reden konnten. Dabei betonte er ausdrücklich, dass Reden auch wirklich das einzige sein würde, was er ihnen erlaubte.
Das musste für den Anfang genügen, denn Melissa wollte unbedingt wieder einmal mit Lincoln sprechen. Seit der Reise in den Norden hatten sie kein vernünftiges Wort mehr miteinander wechseln können.
Melissa wurde die Angst nicht los, Lincoln könne alles zu viel werden und er würde dann ohne sie nach London zurückkehren. Inzwischen hatte sie erkannt, welch eine übermenschliche Anstrengung es kosten würde, ihre Familie umzustimmen. Sie war enttäuscht, denn eigentlich hatte sie gedacht, die Zweifel ihres Vaters wären bald besänftigt und dann würde sich alles zum Guten wenden.
Schon die Heimreise hätte den Weg dafür bereiten können. Gab es eine bessere Gelegenheit, einander kennen zu lernen, als tagelang auf engstem Raum gemeinsam in einer Kutsche durchgeschüttelt zu werden? Doch dann waren ihre Onkel zu ihnen gestoßen und Lincoln war furchtbar schweigsam geworden. Zudem hatte das Dinner am vergangenen Abend deutlich gezeigt, dass die Brüder ihrer Mutter nicht vorhatten, Lincoln in Frieden zu lassen.
Melissa war viel zu sehr damit beschäftigt, ihm vom oberen Ende des Tisches her nicht andauernd schmachtende Blicke zuzuwerfen, und bekam daher anfangs gar nicht mit, dass ihre Onkel unablässig versuchten, Lincoln zu provozieren. Von weitem wirkte alles wie eine ganz normale Unterhaltung. Melissa fiel lediglich auf, wie wenig Lincoln aß, während doch alle anderen nach der Reise einen herzhaften Appetit hatten. Und dann war er einfach verschwunden.
Wiewohl man ihm seinen Ärger ansah, ging Lincoln still und beherrscht aus dem Zimmer. Bald darauf sah man auch Melissa den Ärger darüber an. Doch im Gegensatz zu Lincoln hatte sie nicht vor, ruhig zu bleiben.
Ihr Vater kam ihr zuvor und sagte den MacFearsons gehörig die Meinung, sobald Lincoln die Tür hinter sich geschlossen hatte. Lachlan MacGregor war ein Freund guten Essens und ging davon aus, dass jeder diese Begeisterung teilte. Daher duldete er nicht, dass einer seiner Gäste während einer Mahlzeit gestört wurde. Zu jeder anderen Tageszeit hatte er nichts dagegen — aber beim Essen hörte für ihn der Spaß auf.
Melissa eilte bereits am frühen Morgen zu den Pferdeställen. Ihre freudige Erwartung steigerte sich mit jedem Schritt. Sie und Lincoln würden keine intimen Zärtlichkeiten austauschen können, das wusste sie. Das war auch nicht der Grund, warum ihr das Herz bis zum Hals schlug. Sie freute sich einfach unbändig darauf, endlich mit ihm reden zu können, vielleicht ein paar Minuten ganz unschuldig in seinen Armen zu liegen und danach gestärkt und mit neuer Zuversicht nach Kregora zurückzukehren.
Im Augenblick wünschte sie nichts sehnlicher als ein paar tröstende Worte, denn immerhin war es ihre Idee gewesen, die Hochzeit noch ein wenig aufzuschieben. Nun betete sie, dass sie diesen Entschluss nicht bereuen würde. Wenn man ihr und Lincoln nur ein kleines bisschen ungestörte Zweisamkeit erlaubte, würden sie alles überstehen. Dessen war sie sich
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