Verheißung des Glücks
immer Sie als kleiner Junge getan haben mögen, tun Sie inzwischen doch sicher nicht mehr, oder?«
Melissa war ein wenig beunruhigt, weil Lincoln ihre Frage nicht sofort beantwortete. Steckte am Ende doch mehr hinter der Besorgnis ihrer Onkel, als sie wahrhaben wollte?
Zögernd sagte sie: »Vielleicht sollten Sie mir einmal genau erklären, was meine Onkel an Ihnen so schrecklich finden.«
Lincoln lächelte versonnen. »Im Grunde geht es um Gefühle — Gefühle, für die es keine Garantie und keine Gewähr gibt. Und es geht um Erinnerungen an Dinge, die schon so lange zurückliegen, dass ich nicht mehr weiß, ob sie sich wirklich genau so zugetragen haben. Aber Sie haben Recht. Ich schulde Ihnen eine ausführliche Erklärung.«
Lincoln wirkte plötzlich so bedrückt, dass Melissa Mitleid mit ihm bekam. »Sie müssen nicht darüber sprechen, wenn Sie damit nur alte Wunden aufreißen, die dann wieder zu schmerzen beginnen.«
»Bergen nicht alle Erinnerungen diese Gefahr?« Er lächelte schief. Dann fuhr er schnell fort: »Verzeihen Sie mir. Das klang eben sehr negativ. So einseitig sollte man die eigene Vergangenheit wahrscheinlich wirklich nicht betrachten. Sie müssen mich für furchtbar bitter halten, und ich bin es wohl auch. Was ich Ihnen nun erzähle, hat nicht allein mit Ihren Onkeln zu tun. Mit ihnen hat es nur begonnen. Und daraus entwickelte sich dann alles Weitere. Aber ich schweife zu weit ab.«
Trotz ihrer wachsenden Neugier versuchte Melissa noch einmal, Lincoln vom Reden abzuhalten. Sie wollte nicht, dass er sich quälte. »Das ist doch alles so lange her, Lincoln. Ist es denn wirklich notwendig, es noch einmal ans Licht zu zerren?«
»Ja, das ist es. Auch für Sie, das werden Sie bald verstehen. Ich habe noch nie mit einer Menschenseele darüber gesprochen. Mein Onkel Richard, in dessen Haus in England ich meine Jugend verbrachte, kennt einen Teil der Geschichte. Aber auch er wusste nur in groben Zügen, was geschehen war. Vielleicht war es ein Fehler, es so lange für mich zu behalten. Aber Ihnen muss ich davon erzählen. Sie sollen wirklich alles über mich wissen. Wenn Sie sich dann von mir abwenden, werde ich Ihnen das nicht übel nehmen.«
Langsam bekam Melissa es mit der Angst zu tun. Wenn Lincoln glaubte, sie könne deshalb tatsächlich ihre Meinung über ihn ändern, dann warf das, was sie nun hören würde, wohl wirklich ein sehr schlechtes Licht auf ihn. Aber konnte denn etwas, das so lange zurücklag, überhaupt noch einen Einfluss auf die Gegenwart haben? Melissa hoffte von ganzem Herzen, dass dem nicht so war. Aber sicher konnte sie sich dessen erst sein, wenn sie die ganze Geschichte gehört hatte. Sie war bereit.
Einundzwanzigstes Kapitel
Melissa ließ sich gegenüber von Lincoln auf die gepolsterte Bank sinken. Der Innenraum der Kutsche bot leicht acht bis zehn Fahrgästen Platz. Aber Melissa konnte sich nicht entspannt in die weichen Polster zurücklehnen. Nervös kauerte sie auf der Kante des Sitzes. Auch Lincoln fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Die Schatten der Vergangenheit hingen fast greifbar zwischen ihnen.
Schließlich seufzte Melissa. »Also gut. Erzählen Sie mir alles. Und wenn sich dabei herausstellen sollte, dass Sie ein Ungeheuer sind, werde ich sehr böse mit Ihnen sein.«
Lincoln musste beinahe gegen seinen Willen lachen. »Danke. Was ich eben gesagt habe, klang wirklich furchtbar ernst, nicht wahr?«
»Ja, mir wurde schon ganz bang ums Herz«, gab Melissa zu.
»Ich werde versuchen, mich kurz zu fassen und Sie nicht mit allzu vielen Details zu langweilen. Schließlich müssen wir Sie vor Tagesanbruch zurückbringen.«
Melissa verdrehte die Augen und lachte. Endlich schien Lincoln sich ein wenig zu entspannen. Eine Prise Humor wirkte manchmal doch Wunder.
»Ein wenig ausholen muss ich allerdings, sonst werden Ihnen meine heftigen Reaktionen auf das Verhalten Ihrer Onkel ziemlich spanisch vorkommen. Sehen Sie, damals empfand ich weniger Wut und Zorn als vielmehr Verzweiflung. Der Tod meines Vaters hatte eine große Lücke in meinem Leben hinterlassen. Ich verlor nicht nur ihn, sondern auch noch meine Mutter. Denn als Vater gestorben war, bekam ich sie kaum noch zu Gesicht.«
»Sie ging weg?«
»Nein. Aber sie war trotzdem nicht mehr da. Sie kehrte der Welt den Rücken, schloss sich tagelang in ihrem Zimmer ein und trauerte dort ganz allein um ihn, und weil ich keine Geschwister hatte, fühlte ich mich natürlich sehr einsam.«
»Aber Sie
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