Verheißung des Glücks
sich selbst zusammenzureimen, was sich hinter seinen rätselhaften Worten verbarg. Offenbar wusste er etwas, was er ihr nicht direkt sagen konnte oder wollte. Wahrscheinlich fand sie heraus, worum es sich handelte, wenn sie seinem Rat folgte und Henriette und Edith Burnett einen Besuch abstattete.
Warum war sie nur selbst noch nie auf den Gedanken gekommen, die Damen einmal aufzusuchen? Megan St. James begleitete sie gerne. Aber der Nachmittag verlief nicht wie erhofft. Als sie ankamen, war Lincoln nicht anwesend, und er blieb den ganzen Nachmittag außer Haus. War das Zufall oder Absicht? Melissa konnte es nicht sagen. Nun hielt sie einen Brief in den Händen, und den verdankte sie wahrscheinlich dem Besuch. Die Mühe war also doch nicht umsonst gewesen.
Edith Burnett hatte ihr Lincolns Nachricht in einem unbeobachteten Moment zugesteckt. Nachdem sie nun den Inhalt des Briefes kannte, wunderte Melissa sich auch nicht mehr über die Heimlichtuerei.
Anstatt ihr, wie es sich gehörte, am hellichten Tag seine Aufwartung zu machen, wollte Lincoln sie allein sprechen. Und zwar mitten in der Nacht und ohne Begleitung. Er schrieb, er würde, wenn nötig, bis zum Morgengrauen auf sie warten. Nun stand er sicher schon ungeduldig in einer dunklen Nische in der Straße vor dem Haus. Ein verschwiegenes Stelldichein von zwei Liebenden? Melissa schüttelte den Kopf. Bisher konnte man sie und Lincoln wahrlich nicht als ein Liebespaar bezeichnen. Ein Treffen dieser Art passte ohnehin eher zu einer heimlichen Affäre.
Was sollte sie davon halten? Eigentlich wollte sie ohne langes Nachdenken ihrem Gefühl folgen, welches ihr suggerierte, zu dem Treffen zu gehen, und wenn es nur war, um endlich herauszufinden, warum er ihr nicht mehr nach den geltenden Regeln des gesellschaftlichen Lebens den Hof machte.
Noch nie im Leben hatte sie sich heimlich aus ihrem Zimmer gestohlen, um etwas so derart Verruchtes zu tun. Aber hatte sie denn eine andere Wahl? Auf Zehenspitzen schlich sie durch den Korridor, die Treppe hinab und ins Musikzimmer. Dort schlüpfte sie zu der Glastür, die ins Freie führte, hinaus. Jedes noch so leise Geräusch, das sie auf ihrem Weg hörte, ließ ihr das Herz bis zum Hals schlagen. Ihre Hände wurden feucht und sie war beinahe sicher, dass sie jeden Moment mit dem Butler zusammenstoßen musste, der zu später Stunde noch im Haus nach dem Rechten sah. Doch alles blieb ruhig.
Die Nacht war sternenklar und dennoch lau. Melissa sah die Kutsche im Halbdunkel zwischen den Lichtkreisen zweier Straßenlaternen stehen. Wie der Wind rannte sie zu dem Wagen — ob vor Sehnsucht oder aus Angst vor einer Entdeckung vermochte sie nicht zu sagen.
Ihre Nerven waren aufs Äußerste gespannt. Vor der Kutsche zögerte sie plötzlich. Was, wenn Lincoln gar nicht darin saß? Am Ende war der Brief ja gar nicht von ihm. Vielleicht hatte jemand ganz anderer Edith gebeten, ihr das Schreiben zu überbringen, und nur vorgegeben, es sei von Lincoln. Solche Geschichten hatte man schon gehört.
Doch wer immer in der Kutsche saß, hatte sie kommen gehört und erwartete sie. Nun stieg jemand aus dem Wagen, aber die dunklen Schatten verbargen ihn. Melissa sah eine Gestalt, die Lincolns Größe hatte, doch das Gesicht dieser Person konnte sie nicht erkennen. Sie blieb im Licht der Laterne stehen und rührte sich erst einmal nicht von der Stelle.
Der Mann wartete, merkte dann aber, dass sie zögerte, näher zu kommen. Er ging ihr entgegen, nahm ihre Hand und sagte: »Kommen Sie schnell, bevor man uns entdeckt.«
Nun, da Melissa wusste, dass die dunkle Gestalt wirklich Lincoln war, wäre sie ihm bis ans Ende der Welt gefolgt. All ihre Nervosität fiel von ihr ab. Sie wunderte sich ein wenig darüber. Eine Portion gesundes Misstrauen wäre angesichts dieses mysteriösen Treffens durchaus angebracht gewesen. Wie kam sie dazu, einem beinahe
Unbekannten blind zu vertrauen? Sie wusste keine Antwort auf diese Frage und war nur unendlich gespannt darauf, was sie von ihm erfahren würde.
Das Innere des Wagens war hell erleuchtet. Durch die verhängten Fenster jedoch drang kein Lichtstrahl nach draußen. Ein kurzes Klopfen und die Kutsche setzte sich langsam in Bewegung. Zu langsam, um ein bestimmtes Ziel zu haben.
Lincoln bestätigte Melissas Vermutung: »Er wird so lange herumfahren, bis ich ihm andere Anweisungen gebe ... Ich war nicht sicher, ob Sie kommen würden.«
Melissa nahm sich die Zeit, Lincoln eingehend zu betrachten. Wie sehr sie
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