Verheißung des Glücks
hatten doch sicher Schulfreunde.«
»Wir lebten viel zu weit von allen Schulen entfernt. Ich hatte einen Hauslehrer und sogar einen sehr guten. Leider war er abgesehen davon ein ziemlich sauertöpfischer Geselle, der sich außerhalb der Unterrichtsstunden nicht mit mir abgab. Doch dann begegnete mir Ihr Onkel Dougall. Er füllte die Lücke in meinem Leben aus, wurde mein bester und einziger Freund. Ich liebte ihn über alles und betrachtete ihn bald als den Bruder, den ich mir immer gewünscht hatte.«
»Ah ja, ich weiß, dass Sie Onkel Dougis Freund waren. Aber dann begannen Sie einen Streit und damit endete alles. Warum taten Sie das?«
»Es geschah nicht mit Absicht. Unsere erste Begegnung fand an dem kleinen Teich statt — dort, wo auch wir uns zum ersten Mal gesehen haben«, fügte Lincoln mit einem Lächeln hinzu.
Melissa erwiderte sein Lächeln und war froh, dass sie das in all ihrer Anspannung überhaupt fertig brachte. »Ich wusste, dass meine Onkel immer gerne dorthin gingen. Aber ich ahnte nicht, dass der Teich ein so beliebter Treffpunkt ist.«
»Das war er damals auch nicht. Nur die MacFearsons und ich kannten dieses Wasserloch. Eines Tages wanderten wir zu viert dorthinaus. Zwei von Dougalls älteren Brüdern leisteten uns Gesellschaft. Sie erzählten von einer wilden Keilerei, die sie vor kurzem miterlebt hatten. Dougi behauptete, ihn hätte man dabei nicht als Verlierer davonkriechen sehen. Ich wollte ihn ein bisschen aufziehen, indem ich sagte, er hätte Fäuste wie ein Mädchen und sollte damit lieber Fliegen fangen als sich prügeln. Wir neckten einander andauernd. Er war also dieses spöttische Geplänkel gewöhnt. Normalerweise gefiel es ihm und er teilte genauso viel aus, wie er einsteckte. Aber diesmal waren seine Brüder dabei. Sie hatten mich gehört und lachten Dougi aus. Er wurde wütend und bestand darauf, mir zu zeigen, wie gut er mit den Fäusten umgehen konnte.«
»Dann begann also er die Prügelei?«
»Wenn man das, was dann kam, so nennen kann — ja«, antwortete Lincoln. »Zuerst nahm ich es gar nicht ernst, denn er konnte mir nichts anhaben. Wir waren zwar gleich alt, aber in den zwei Jahren, seit wir uns kannten, war ich ungeheuer gewachsen und er hatte noch nicht aufgeholt.«
»Ja, Ian One sagte, Dougi hätte den Kampf niemals gewinnen können, und Sie wussten das.«
Lincoln nickte. »Ich hätte mich nie mit Dougall geprügelt, ganz gleich, wie sehr er mich auch provozierte. Ich hob nur die Fäuste, um mich zu schützen. Aber er stolperte und fiel mir entgegen.«
Melissa ahnte, was sie nun hören würde. »Sagen Sie nicht, er brach sich an Ihren Fäusten die Nase.«
Lincoln errötete ein wenig. »Ich weiß, es klingt etwas merkwürdig, vielleicht sogar unmöglich. Aber Dougalls Nase war gar nicht gebrochen. Sie fing nur furchtbar an zu bluten. Es war einfach ein dummer Zufall, dass er in dem Moment, als ich die Fäuste hob, fiel und sich an meinen Knöcheln die Nase anstieß. Ich war noch überraschter als er selbst und fing auch sofort an, mich zu entschuldigen, obwohl ich eigentlich gar nichts dafür konnte. Aber man ließ mir gar keine Chance. Das Blut auf Dougis Oberlippe rief sofort seine Brüder auf den Plan, und die beiden machten nicht viel Federlesens, sondern stürzten sich kurz entschlossen auf mich.«
Melissa verzog das Gesicht, als sie sich die Szene vorstellte, und sagte: »Eigentlich hätte Sie das nicht wundern dürfen. Sie kannten die MacFearsons doch inzwischen.«
»Es erstaunte mich auch nicht, es machte mich zornig. Man ließ mir einfach keine Gelegenheit, die Sache mit Dougi zu bereinigen. Im Grunde bewunderte ich die MacFearsons dafür, dass sie einander stets zu Hilfe kamen. Immer stellten sich die Größeren vor die Kleineren. Aber in diesem Fall schössen sie weit über das Ziel hinaus.«
»Vielleicht hielten sie dieses unglückliche Vorkommnis für einen Verrat an Ihrer Freundschaft mit Dougi.«
»Zu diesem Schluss kam ich ebenfalls, wenn auch erst Jahre später. Ich weiß nicht mehr, wie ich damals nach Hause gelangte. Weil ich nun so furchtbar zugerichtet war, kümmerte meine Mutter sich endlich wieder einmal um mich. Daran erinnere ich mich noch recht gut. Einen ganzen Tag lang saß sie an meinem Bett. Es war ein zwiespältiges Gefühl. Ich freute mich, dass sie bei mir war, und zugleich ärgerte ich mich, dass ich erst verletzt in meinem Zimmer liegen musste, damit sie sich Zeit für mich nahm. Dennoch verspürte ich den Drang,
Weitere Kostenlose Bücher