Verheißungsvolle Küsse
nachsichtiges Lächeln. »Bon, mignonne.« Er beugte den Kopf und drückte einen Kuss auf ihre Schläfe. »Aufbruch im Morgengrauen!«
Als hätte irgendein himmlisches Wesen das gehört, knarzte es in der Takelage, zuerst sanft, dann immer lauter, und schließlich kam ein Windstoß aus dem Nichts.
Sebastian hob den Kopf. Schreie und Rufe ertönten, die Mannschaft machte sich an die Arbeit. Die schwere Kette rasselte und klapperte, als der Anker eingeholt wurde. Taue liefen durch die Flaschenzüge, die Segel wurden gehisst, klatschten begierig in der auffrischenden Brise.
Helena stand an der Reling, als sich die Rahen blähten, die schnittige Jacht wendete und Kurs auf Saint-Malo hielt. Mit Sebastian im Rücken beobachtete sie, wie die Küste Frankreichs näher kam.
Alles verlief so, wie Sebastian es vorausgesagt hatte. Die Jacht glitt an den Kai von Saint-Malo, unauffällig zwischen den vielen Schaluppen und Fischerbooten aller Art, die sich an den steinernen Kais drängten. Sie verließen die Jacht, als wären sie nur Passagiere gewesen, und vertrauten ihr Gepäck einem Träger an, der ihnen auf dem kurzen Weg zum »Pigeon« folgte - einem der besten, wenn auch nicht dem vornehmsten Gasthaus der zahlreichen, mit denen der geschäftige Hafen prahlte. Dort fanden sie komfortable Zimmer.
Trotz der Qualität des Bettes konnte Helena kaum schlafen. Ihr war die Tatsache nicht entgangen, dass Sebastian wieder seinen Degen angelegt hatte. Wie jeder andere Gentleman trug er eine solche Waffe häufig - aber normalerweise diente er als Zierrat und nicht der Verteidigung. Jetzt trug er eine andere Sorte Degen. Dieser war alt, oft benützt, schmucklos. Er sah handlich aus - wenn Degen das überhaupt sein konnten - als wäre er ein altgedientes Lieblingsstück. Sie hatte bemerkt, wie seine Hand unbewusst an den Griff fuhr, dort blieb und seine langen Finger gedankenverloren das glänzende Metall umschlangen.
Der Degen schien fast wie ein Teil von ihm - eine Verlängerung seines Arms. Dies war kein Spielzeug, sondern ein Instrument, das er einzusetzen wusste. Die Tatsache, dass er beschlossen hatte, ihn umzuschnallen … sprach Bände.
Innerlich seufzend, musste sie sich eingestehen, wie dumm es war zu glauben, sie könnte etwas für ihn tun - ihn, der hier war, um sie zu beschützen. Es machte noch weniger Sinn, sich Sorgen zu machen - und trotzdem tat sie es.
Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, preschten ihre Gedanken los, stellten sich alle möglichen Schwierigkeiten vor, Hürden, die plötzlich auftauchten und ihnen den Weg abschnitten, sie foppten, ablenkten, irgendwie daran hinderten, bis zum Weihnachtstag zu Ariele zu gelangen …
Helena schreckte aus den Albträumen hoch, mit rasendem Puls und verkrampftem Magen - dann ließ sie sich in die Kissen zurückfallen. Versuchte, wieder einzuschlafen.
Fix und fertig angezogen wartete sie bereits, als Phillipe in der Kühle vor dem Morgengrauen an ihre Tür klopfte. Eine Tasse Schokolade - nur weil Sebastian darauf bestand - und schon waren sie unterwegs, bevor die Sonne sich anschickte aufzugehen.
Nach Verlassen des Gasthofes hatte Sebastian Helena und Phillipe zur Kutsche gewunken und Phillipe zugemurmelt, er solle sich neben sie setzen. Selber nahm er gegenüber Platz; aber sobald die Stadt hinter ihnen lag und sie über offene Straßen dahinpolterten, machte er Phillipe ein Zeichen, die Plätze zu tauschen.
Sebastian setzte sich neben Helena und sah die dunklen Ringe unter ihren Augen, die Blässe ihres Gesichts. Er hob einen Arm, legte ihn um sie und rückte sie zurecht, sodass sie eng an seiner Seite kuschelte. Als sie die Stirn runzelte, lächelte er und hauchte einen Kuss in ihr Haar. »Ruh dich aus, mignonne ! Du wirst deiner Schwester heute Abend nichts nützen, wenn du nicht hellwach und aufmerksam bist.«
Die Erwähnung der Rettung ihrer Schwester ließ sie zusammenzucken - und lieferte ihr die Entschuldigung, ihrer Müdigkeit nachzugeben und ihren Kopf an seine Brust zu legen. Die Augen zu schließen …
Nach kurzer Zeit atmete sie regelmäßig. Er hielt sie sicher in seinem Arm, ein warmes, weiches, frauliches Gewicht, und sah zu, wie die Landschaft vorbeizog. Die halbe Nacht hatte er damit zugebracht, den besten Fahrer zu suchen - der Mann war seinen Preis wert. Sie ratterten anschließend durch den Tag, hielten nur am frühen Nachmittag für eine halbe Stunde an.
Es dämmerte bereits, als die Mauern der alten Stadt Montsurs vor ihnen auftauchten.
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