Verheißungsvolle Küsse
stehlen und einfach frech dazubleiben. Ein Dolch, den er einem französischen Aristokraten abgenommen hat, kommt abhanden, während eine französische Aristokratin zu Besuch ist? Sie schätzte, dass es ungefähr eine halbe Sekunde dauern würde, bis er es bemerkt hätte.
Sie würde ihn verlassen müssen und fliehen.
Er würde außer sich vor Wut sein, würde ihre Tat als Verrat betrachten.
Außerdem glaubte er bestimmt, sie wäre von Anfang an Teil von Fabiens Plan gewesen.
Bei dieser Erkenntnis hob sie den Kopf, verdrängte ihre trüben Gedanken - griff nach der Orangenmarmelade. Biss die Zähne zusammen.
Nichts zählte, außer Ariele zu retten. Sie hatte keine Wahl: Sie konnte sich nicht erlauben, ihren Entschluss durch irgendetwas ins Wanken bringen zu lassen.
Die Thierrys und Clara überlegten, ob sie einen Spaziergang im Garten machen sollten. Louis war bis jetzt noch nicht erschienen.
Fast hätte sie einen Satz gemacht, als Sebastian mit einem Finger über ihren Handrücken strich. Mit großen Augen stellte sie sich seinem Blick.
Sein Mund verzog sich zu einem leichten Lächeln, aber sein Blick war scharf. »Ich habe mich gefragt, mignonne , ob Ihr so weit genesen seid, dass Ihr einen Ritt riskieren könntet. Der frische Wind belebt manchmal mehr als ein langsamer Spaziergang in den Gärten.«
Bei dem Gedanken an einen Ritt begann ihr Herz zu klopfen. Und zu Pferd wären sie sich nicht so nahe; sie würde keinen Kontakt riskieren, der sie verraten könnte - der die Mauern, die sie versuchte um ihr Herz zu errichten, auf die Probe stellte.
Sie lächelte, zeigte ihre Freude, nickte. »Das würde mir sehr gefallen.«
Er sah zufrieden drein. »Sobald Ihr bereit seid!«
Eine halbe Stunde später trafen sie sich in der Halle, sie im Reitkostüm, er in hohen Stiefeln und Reitjacke. Sebastian winkte sie voraus. Sie verließen das Haus durch eine Seitentür und überquerten den Rasen, schlenderten unter den kahlen Ästen einer Eiche zu den Stallungen dahinter.
Er hatte schon alles arrangiert, ihre Pferde standen bereit. Ein riesiges graues Jagdpferd für ihn, eine muntere braune Stute für sie. Galant hob er sie in den Sattel der Stute, dann raffte er die Zügel des Grauen zusammen und stieg auf. Das Pferd trappelte hin und her, schnaubte, begierig loszupreschen; die Stute tänzelte.
»Sollen wir?« Sebastian zog eine Braue hoch.
Helena lachte - ihre erste spontane Reaktion, seit sie Fabiens Brief gelesen hatte - und wendete die Stute.
Seite an Seite, Schritt für Schritt verließen sie den Stallhof. Sebastian hielt den Grauen zurück. Das Pferd schüttelte sich einmal, dann fügte es sich, akzeptierte den Befehl, akzeptierte den Herren, der es zügelte. Helena grinste insgeheim und richtete den Blick nach vorn.
Trotz der Jahreszeit war es klar, aber die morgendliche Kühle lag noch in der Luft. Weiche Wolken tummelten sich am Himmel, blockierten die schwache Sonne; insgesamt war es angenehm, über die stillen Felder zu reiten, leer und braun, bereits gezeichnet von den Vorboten des Winters. Auch hier herrschte Frieden. Helena spürte, wie er sie berührte, tröstete.
Sie hatte schon auf den stämmigen Ponys der Camargue reiten gelernt, als sie kaum laufen konnte. Die Aktivität verlangte ihr keine bewusste Mühe ab; so konnte sie sich unbekümmert umsehen, sich freuen, genießen. Die Stute reagierte gut, war leicht zu handhaben; ohne Bedürfnis nach Unterhaltung ritten sie dahin; sie wendete, wenn Sebastian es tat, folgte ihm über seine Ländereien.
Bald erreichten sie den Gipfel einer Anhöhe. Zu ihrer Überraschung war das Land dahinter flach, breitete sich vor ihnen aus bis zum Horizont. So etwas hatte sie noch nie gesehen; aber Sebastian hielt nicht an, er geleitete sie den sanften Abhang hinunter in eine scheinbar unendliche Weite.
Ein erhöhter Weg führte zwischen zwei Feldern hindurch. Sie schlugen ihn ein, dann bog Sebastian auf das Weideland ab und ließ den Grauen angaloppieren. Helena folgte und merkte plötzlich, dass die Weide nass war, voller Wasser, aber nicht sumpfig. Sebastian ließ den Grauen seine Beine strecken; sie tat es ihm gleich, hielt furchtlos sein Tempo, spürte, wie der Wind ihnen entgegenbrauste und durch ihr Haar stob.
Jedenfalls wurde die schwere Wolke, die ihr Herz belastete, leichter, wurde weggeblasen.
Sie ritten weiter durch den Morgen, der Himmel über ihnen wölbte sich weit und windgepeitscht. Der Ruf der Lerchen und Wasservögel waren die einzigen Laute
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