Verheißungsvolle Sehnsucht
Doch dieses Mal war es viel schlimmer. Sie sprach nicht mehr wie damals auf die Behandlungen an.«
Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Ich habe das Thema schon wieder angesprochen.«
Er streckte den Arm aus und legte seine Hand auf ihre. »Wir unterhalten uns, Josie. Das tut man, wenn man miteinander ausgeht. Hören Sie auf sich zu entschuldigen. Wenn es mich nicht interessieren würde, hätte ich nicht gefragt. Aber wenn das Thema zu schmerzhaft für Sie ist, können wir natürlich auch über andere Dinge reden. Ich interessiere mich für alles, was Sie betrifft. Ich möchte gern alles über Sie erfahren … über Ihr Leben, Ihre Familie, über die Dinge, die Sie bewegen.«
Sie lächelte. Und entzog ihm nicht die Hand, ein Umstand, der ihn absurderweise mit Triumph erfüllte.
»So … Sie sprachen von Ihren
Eltern
. Ist Ihr Vater auch gestorben?«
Ihre Lippen verengten sich zu einem Strich, und ihr Blick war jetzt kalt und ließ ihre Augen einen dunkleren Blauton annehmen, fast wie bei einer mit Frost überzogenen Fensterscheibe.
»Er hat sie – uns – verlassen, als der Krebs das erste Mal ausbrach. Nicht sofort. Er wartete, bis sie wieder so weit war, sich selbst um alles kümmern zu können, dann trennte er sich von ihr. Und aus welchem Grund? Er konnte den Kummer nicht ertragen, sie an den Krebs zu verlieren. Er wollte nicht zusehen, wie sie starb. Stattdessen verließ er sie lieber. Ist das nicht das Schwachsinnigste, was Sie je gehört haben? Es ergibt für mich keinen Sinn. Es war mir immer völlig unverständlich, wie er Frau und Kind verlassen konnte, nur weil er Angst hatte, sie könnte sterben. Er hätte sie so oder so verloren, aber durch seine Entscheidung verlor er auch mich. Das habe ich ihm nie verziehen. Dass er uns verließ, als wir ihn so sehr brauchten. Vor allem meine Mutter, die sich nach der langen Behandlung eine Arbeit suchen musste, um mich versorgen und die Medikamente bezahlen zu können.«
»Ja, das ist schwachsinnig«, stimmte Ash ihr finster zu. »Dann haben Sie ihn seitdem nicht mehr gesehen? Vor wie vielen Jahren war das alles?«
»Achtzehn«, erwiderte sie gepresst. Ungeachtet der Wut – die er durchaus verstehen konnte – schwang vor allem Schmerz in ihrer Stimme mit. Sie fühlte sich verraten. Er strich mit dem Daumen über ihre Knöchel, um sie zu besänftigen und schweigend zum Weiterreden zu ermutigen.
Er wollte, dass sie redete, wollte, dass sie sich entspannte und sich ihm weiter öffnete.
»Ich war zehn, als er ging. Er hat lange Zeit nicht einmal versucht, mit ihr oder mir in Kontakt zu treten. Als ich mit der Highschool fertig war, rief er mich an, er wollte mir gratulieren und mir ein Geschenk schicken. Ich habe ihm deutlich gemacht, wo er sich sein kostbares Geschenk hinstecken konnte.« Mit jedem Wort wurde ihr Blick dunkler, jetzt verzog sie die Lippen.
»Er hat erst wieder Kontakt zu mir aufgenommen, als Mom tot war.«
Tränen glitzerten in ihren Augen, und sie rieb sich mit dem Daumen ihrer freien Hand über den Augenwinkel, aus dem einige Tropfen gelaufen waren.
»Entschuldigung«, sagte sie wieder leise. »Ich rede sonst nie darüber. Genau genommen habe ich noch nie mit jemandem darüber geredet. Jetzt kommt alles raus, und ich wusste gar nicht, wie wütend ich über all das noch bin.«
»Das ist doch verständlich«, sagte er. »Sie haben das Ganze sehr lange in sich verschlossen gehalten.«
Sie nickte.
»Dann hat er sich also mit Ihnen in Verbindung gesetzt, als Ihre Mutter gestorben war? Hat er gewusst, dass sie wieder krank war?«
»Er hat es gewusst«, würgte Josie hervor. »Aber er hat sie nie besucht. Er hat nie angerufen. Hat nie wieder mit ihr geredet. Nachdem sie tot war, rief er an, weil er mich sehen wollte. Er sagte, dass die Sache mit Mom ihm leidtue, aber dass wir wieder eine Familie sein sollten. Ich erklärte ihm, dass eine Familie nicht so einen Mist baut, wie er es getan hatte, und dass meine Familie tot ist. Das war vor zwei Jahren. Er hat nie wieder versucht, Kontakt aufzunehmen. Ich weiß noch nicht einmal, wo er wohnt. Er ist nach der Scheidung von Mom häufig umgezogen. Bedingt durch seine Arbeit ist er viel unterwegs.«
»Bedauern Sie manchmal, dass Sie keinen Kontakt zu ihm haben?«
Die Frage schien sie zu überraschen. »Nein. Überhaupt nicht. Ich glaube nicht, dass ich ihm gegenübertreten könnte, ohne einen Wutanfall zu bekommen. Gerade nach Moms Tod. Ich glaube, ich wäre auf ihn losgegangen, wenn
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