Verhext: Roman (German Edition)
Mit seinen vier Jahren ist er zu sehr viel mehr imstande als die meisten Hexen auf dem Höhepunkt ihrer Kraft.«
»Dann hätten also die meisten Hexenkinder das, was er für mich am Flughafen getan hat, nicht gekonnt?«
»Eine Hypersensible mitten in einer Menschenmenge komplett abzuschotten? Schätzchen, als ich noch jünger war, hätte ich das vielleicht geschafft, für eine Minute oder zwei. Jamie ist sich ziemlich sicher, dass er es gar nicht hinbekommen hätte. Wir alle hätten den Effekt für eine Weile abmildern können, aber was Aervyn getan hat – ohne Vorbereitung, ohne Kreis als Hilfe … Er ist der einzige lebende Hexer, den ich kenne, der dich so vollständig und so lange abschirmen kann.«
»Ich bin froh, dass er da war, aber das muss eine unglaubliche Verantwortung für Nell sein.« Und ich schätze, da muss es mir wohl doch nicht peinlich sein, dass mir ein Kind zu Hilfe gekommen ist , dachte Lauren, während sie einen Schluck von ihrem Tee nahm. Pfefferminz. Sie verdrehte im Geist die Augen. Ganz offensichtlich war Sophie nicht die einzige Hexe, die versuchte, ihr Gehirn mit Teeblättern zu heilen. Jennie lächelte. »Der Tee wirkt besser, als du denkst. Und nein, mein Kind, ich bin nicht in deinem Kopf. Du denkst so laut, dass jede Mentalhexe im Umkreis von einer Meile dich hören kann.«
Mist. Einige von ihnen waren gerade bei Nell in der Küche. »Wie genau kann ich das verhindern?«
Jennie tätschelte ihre Hand. »Mach dir darum heute erst mal keine Gedanken. Morgen fangen wir mit der richtigen Arbeit an, dann zeige ich dir, wie du deine Lautstärke regeln kannst. Fürs Erste blockieren Jamie und Aervyn deine Gedanken – das verlangt die Etikette für Mentalsensitive. Während wir miteinander arbeiten, werde ich mich dir öffnen, aber nur dann. Und vertrau mir, es gibt nur wenig, das du denken könntest, das ich noch nicht gehört habe.«
»Kann sonst noch jemand meinen lauten Kopf hören?«
»Nein. Ich habe Jamie damit beauftragt, das sicherzustellen. Es ist das Mindeste, was er tun kann, nachdem er deine Kanäle so weit aufgerissen hat. Eigentlich solltest du im Laufe deiner Ausbildung nur langsam sensibler werden, sodass sich deine Kontrollfähigkeit zusammen mit deiner Macht entwickelt. Das hat Jamie für dich sozusagen kurzgeschlossen.«
Lauren protestierte. »Dafür kann man ihm aber nicht die Verantwortung zuschieben. Soweit ich weiß, hat ihn seine Vision zu einem unglücklichen Zeitpunkt überrascht.«
»Niemand macht ihm Vorwürfe. Aber Jamie würde selbst als Erster einräumen, dass man auch für das Verantwortung trägt, was man unabsichtlich bewirkt. Er hat die Verantwortung für dich, und ich nun ebenfalls, und darüber bin ich froh.«
Lauren war gerührt. In einer großen Stadt wie Chicago war jeder auf sich allein gestellt. Und nun versuchten so viele Menschen ihr zu helfen, einer Fremden, die sie im Internet gefunden hatten.
»Das machen wir aus freien Stücken, mein Kind.« Jennie lächelte. »Heute möchte ich dich erst ein bisschen besser kennenlernen. Willst du mir zuerst erzählen, wie du mit alldem zurechtkommst, oder möchtest du meine kleinen Enkel sehen?«
Irgendwie ist sie unwiderstehlich. Dynamische Großmutter und freundliche Nachbarin in einer Person. »Zeig mir deine Enkel. Du sagtest, du wärst Fotografin – da hast du doch bestimmt Fotos dabei.«
»In der Tat, das habe ich.« Jennie griff in ihre Kameratasche und zog einen Laptop heraus, der identisch mit Laurens war. Sie klickte ein paarmal und reichte ihn ihr dann, während eine Diashow auf dem Bildschirm ablief.
Dynamische Großmutter und Computerass. Lauren starrte die Bilder an, zuerst aus höflichem Interesse, dann mit einem Entzücken, wie es nur kleine Kinder hervorrufen können. Wer konnte schon Drillingen widerstehen? Die Babys waren wirklich süß. Und die Bilder fantastisch.
Lauren blickte auf. »Du bist eine sehr gute Fotografin. Deine Enkel sind hervorragende Motive, aber du hast großes Talent. Du solltest das professionell machen.«
Jennie nickte zu einem Buch auf dem Couchtisch. »Das habe ich. Ich bin mehr oder weniger im Ruhestand. Vor allem habe ich Porträts gemacht, auch wenn niedliche Enkel nicht mein bevorzugtes Motiv waren.«
Das Porträt auf dem Umschlag des Bildbandes war berühmt. Lauren kannte es gut. Es war eines der zentralen Exponate einer Ausstellung im Chicagoer Art Institut gewesen. Damals hatte sie bei seinem Anblick weinen müssen.
Und auch heute
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