Verhext: Roman (German Edition)
traten ihr wieder die Tränen in die Augen.
Auf dem Foto schmiegte sich ein junges Mädchen an einen in Leichentücher gewickelten und für ein Begräbnis vorbereiteten Körper. Niemand musste einem sagen, dass sich das Kind noch ein letztes Mal an seine Mutter kuschelte.
Mit tränenverhangenen Augen sah Lauren hoch und versuchte, das künstlerische Genie und die Frau, die ihr gegenübersaß, auf einen Nenner zu bringen. »Du bist J.W. Adams? Ich wusste gar nicht, dass das Art Institut auch Werke von lebenden Künstlern zeigt. Deine Fotografien sind lebensverändernd. Jedes einzelne Bild geht einem ans Herz.«
Jennie strahlte vor Freude. »Was für ein schönes Kompliment. Danke. Ja, ich bin Jenvieve Whitney Adams, aber hier nennt mich jeder nur Jennie.«
»Obwohl du eine Hexe bist, hast du dein Leben der Aufgabe gewidmet, diese überwältigenden Fotos zu machen.«
»Ich kann diese Fotos nur machen, weil ich eine Hexe bin«, sagte Jennie. »Eine gute Porträt-Fotografin zeigt das Äußere eines Menschen, eine sehr gute das Innere. Für eine Mentalhexe ist es ein wenig leichter, in einen Menschen hineinzuschauen, zu wissen, was das Foto zeigen muss.«
Lauren überlegte, ob sie das unmoralisch finden sollte. »Du liest ihre Gedanken, bevor du sie fotografierst?«
Jennie lächelte. »Es geht nicht einfach nur darum, in jemanden hineinzusehen oder nicht. Eine Menge Möglichkeiten
liegen dazwischen. Wenn man ganz draußen bleibt, geht man mit niemandem eine Verbindung ein. Es gibt ein paar moralische Richtlinien, aber letztendlich muss jede Mentalhexe ihre eigenen Grenzen finden, ihre eigene Balance. Ich war mit mir immer dann im Reinen, wenn ich jemandes Geschichte so erzählen konnte, wie sie erzählt werden musste.«
Sie machte eine Pause und zeigte auf das Cover des Bildbandes. Lauren konnte auch in ihren Augen Tränen schimmern sehen. »Dieses kleine Mädchen – ihr Name war Minah. Sie hat mir buchstäblich das Herz gebrochen. Der einzige Weg, ihrer Trauer und ihrer Liebe Achtung zu bezeugen, war, dieses Foto zu machen – und es richtig zu machen.«
Nell stand am Herd und rührte in etwas, das wundervoll duftete. Konnten denn alle in Jamies Familie kochen, fragte sich Nat, oder hatte sie bisher nur Glück gehabt?
»Mein Bruder ist ein Feigling«, sagte Nell und warf einen Blick zum Tisch, an dem Nat saß. »Er verdrückt sich, weil er weiß, dass ich dich genauer unter die Lupe nehmen will.«
Nat lachte. Nell klang, als würde sie Spaß machen. Doch sie wusste, es war ihr ernst. »Vielleicht sollte ich lieber mit Aervyn im Sandkasten spielen.«
»Ich weiß, die Entscheidung fällt dir nicht leicht, aber ich habe Schokolade, wenn dich das zu meinen Gunsten umstimmen kann.«
»Wenn es dunkle Schokolade ist, kannst du mir so viele Fragen stellen, wie du willst.«
Nell grinste. »Dunkle Schokolade mit Orange oder Minze? Wenn du versprichst, brav zu antworten, kannst du beides haben.«
»Willst du dich einfach in meinen Kopf einstöpseln oder es mit einem Frage-Antwort-Spiel versuchen?«
Nell schnaubte. »Meine Mentalkräfte sind äußerst dürftig. Wir müssen wohl mit der altmodischen Variante vorliebnehmen. Also, wie ist das, wenn irgendein fremder Hexer plötzliche Visionen von einer gemeinsamen Zukunft mit dir hat?«
Bei den Smythe, dachte Nat, hätte es wohl Stunden gedauert, bis man mit dieser Frage herausgerückt wäre. Ha. Wohl eher ewig. Ihre Familie hätte eine Unterhaltung über etwas so Unpassendes wie Hexen niemals zugelassen.
Sie sah Nell an und überlegte. »Wie viel hat Jamie dir von seinen Visionen erzählt?«
»Weniger, als du mir hoffentlich erzählen wirst.« Nell rührte ein letztes Mal in einem der Töpfe und setzte sich dann zu ihr an den Tisch. »Tut mir leid, dass ich so direkt bin. Das ist eigentlich gar nicht meine Art, aber das bringt es mit sich, wenn man fünf Kinder hat.«
Nat zog eine Augenbraue hoch. »Oder einen nervtötenden Bruder, der jeden Moment hereinplatzen könnte?«
Nell wurde rot. »Ja, das auch. Also, rückst du nun mit der Sprache raus?«
Nat beschloss, dass sie Nell mochte – obwohl sie nicht gerade feinfühlig war. Man merkte, dass sie Jamie liebte, und außerdem war sie sehr nett zu Lauren. Loyalität und Großzügigkeit waren Nat sehr wichtig. Eine gute Gelegenheit, sich eine neue Freundin zu machen.
»Jamie hat eine Verbindung zwischen ihm und mir hergestellt, damit ich sehen konnte, was er gesehen hatte. Erst am Schluss habe ich
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