Verhext: Roman (German Edition)
toll. Er ist jetzt so zufrieden.«
Tabitha griff in ihre Hosentasche, um ein Taschentuch herauszuziehen, und schnäuzte sich die Nase. »Sie haben ja keine Ahnung. Beobachten Sie ihn gerade?« Als Lauren nickte, fuhr sie fort: »Können Sie gleichzeitig auch in den Geist der Mutter sehen?«
Das hatte Lauren zwar noch nicht versucht, aber sie konnte es visualisieren. Wieder suchte sie ihre Mitte und teilte einen Kanal von ihrer Verbindung mit dem Jungen ab und schickte ihn zu seiner Mutter.
Oh. Jacobs sonnenhelle Freude war nur ein blasser Schatten neben der seiner Mutter. So hatte sie ihren kleinen Jungen nicht mehr gehalten, seitdem er gelernt hatte zu gehen und dann sich zu drehen. Jahre um Jahre des Schmerzes, das Kind, das man liebte, nicht halten zu können, nicht wirklich erreichen zu können. In diesem Moment hätte die Zeit stillstehen dürfen.
Als Lauren sich vorsichtig zurückzog, waren ihre Wangen wieder nass. Tabitha reichte ihr eine Schachtel mit Papiertüchern. »Sie hat ihn nie halten dürfen?«
»Das ist nicht ungewöhnlich. Jacob ist Autist, und manche Kinder innerhalb des autistischen Spektrums haben große Probleme mit physischer Nähe. Es gibt auch viele, die gerne kuscheln und umarmen, aber nicht alle. Wir haben versucht, Jacobs sensorische Bedürfnisse auf andere Weise zu erfüllen, damit er aufhört, sich zu drehen, und eine bessere Chance hat, mit seiner Familie zu interagieren, aber wir haben nur recht langsam Fortschritte gemacht.«
Tabitha putzte sich wieder die Nase. »Ich arbeite nun
schon seit über einem Jahr mit ihm. Heute waren Sie Zeuge eines kleinen Wunders, Lauren. Sie haben geholfen, es zu ermöglichen. Jacob wird sehr geliebt, aber seit heute kann er es auch spüren.«
Lauren schüttelte den Kopf. »Ich habe so wenig getan. Wird die Weste ihm auch weiterhelfen?«
»Oh ja. Und für die Nacht haben wir Gewichtsdecken und Kissen für den Schoß, die er statt der Weste einsetzen kann. Außerdem gibt es Therapien, die sein Bedürfnis nach zusätzlichem Gewicht verringern.«
Lauren blickte hinüber zu Jacob und seiner Mutter. Jetzt war er aufgestanden, aber nicht um sich zu drehen. Ohne jede Hast ging er durch den Raum, im Vorbeigehen Spielzeuge und Möbel berührend.
»Er erkundet seine Umwelt«, sagte Tabitha. »Wenn er nicht von dem Drang, sich zu erden, beherrscht wird, ist er in der Lage, andere Dinge zu tun, zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Das Problem bei autistischen Kindern ist, dass wir zu viele Möglichkeiten haben, zu viele Therapien. Die Methode ›Versuch und Irrtum‹ kann manchmal lange dauern. Sie haben für ihn eine große Tür geöffnet.«
Auch Jennie schnäuzte sich die Nase. »Nun, das war zwar nicht gerade die Art von Hospitation, die ich im Sinn hatte, aber ich glaube, das erfüllt auch seinen Zweck. Lauren, du hast etwas Wunderbares für diesen kleinen Jungen und seine Familie getan. Sieh ihn dir nur an.«
Jacob und sein Vater saßen auf dem Boden, neben ihnen ein Eimer mit Bausteinen. Der Vater stapelte drei Steine aufeinander und hielt dann einen seinem Sohn hin.
Jacob beobachtete ihn, rührte sich aber nicht. Der Vater legte den Baustein auf die drei anderen und reichte ihm wieder einen. Dieses Mal nahm Jacob das Klötzchen und setzte es oben drauf.
Tabitha gab einen leisen Freudenlaut von sich. »Jacobs Vater ist Bauarbeiter. Diese Bauklötze hat er hergestellt, als seine Frau schwanger war. Auf diesen Moment wartet er seit dem Tag, an dem sein Sohn geboren wurde.«
Sie drehte sich zu Lauren um. »Es sind die alltäglichen Interaktionen, die Familien zusammenhalten. Die Bauklötze sind nicht das Wichtige, sondern die Gelegenheit, die der Vater hat, seinen Sohn anzuleiten, mit ihm zu spielen und ihm zu helfen, etwas zu lernen.«
Es wird langsam zur Gewohnheit, dass ich mich von meinen Gefühlen überwältigen lasse , dachte Lauren. »Es klingt, als würden Sie hier großartige Arbeit leisten und viel bewegen. Ich bin froh, dass ich ein wenig helfen konnte.«
Lachend schüttelte Tabitha den Kopf. »Ich habe den Bogen beinahe überspannt, was? Bitte entschuldigen Sie. Ich hätte nicht erwartet, dass es so viel bringt, wenn Sie in Jacobs Kopf schauen, sonst wäre ich behutsamer vorgegangen.«
Jennie lachte. »Was so viel heißt wie: Sie hätte es auf jeden Fall getan.«
Tabitha grinste. »Du kennst mich gut. Ich liege dir immer in den Ohren, dass du kommen und in meinen Kindern lesen sollst, und ganz offensichtlich ist Lauren eine sehr
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