Verhext: Roman (German Edition)
Lauren. »Meine Mentalkräfte sind vor allem empathisch, deswegen nehme ich seine Gefühle wahr. Ohne telepathische
Gabe sehe ich jedoch nicht die Bilder, Worte oder Empfindungen, die mit diesen Gefühlen einhergehen.«
Lauren versuchte sich vorzustellen, was sie vom Geist des kleinen Jungen empfangen würde, wenn sie nur seine Gefühle wahrnähme. »Deshalb müssen Sie sich das Warum hinter den Gefühlen, die Sie wahrnehmen, zusammenreimen.«
Tabitha sah erfreut aus. »Genau. Bei diesem Jungen kann ich zwar spüren, dass seine Freude nach dem Fallen ansteigt, aber ich dachte, es wäre der Fall selbst, der das bewirkt, und dass er deswegen wieder aufsteht, um sich weiterzudrehen.«
»Das könnte sein.« Lauren schüttelte langsam den Kopf. »Aber das glaube ich nicht. Da ist dieser sehr klare Moment, kurz nachdem er gefallen ist, wenn er den Boden unter sich spürt. Erst wenn dieses Gefühl nachlässt, steht er auf – ich glaube, das ist der Grund, warum er sich dreht. Tut er das oft?«
»Fast die ganze Zeit, wenn er wach ist«, sagte Tabitha.
Allein die Vorstellung verursachte ihr Schwindel. Lauren sah wieder zu Jacob. Auf einmal bekam das, was wie eine gewöhnliche Belustigung eines kleinen Kindes aussah, eine neue Bedeutung.
Als er hinüber in den Schoß seiner Mutter stolperte, sich dann aber wieder ihrer Umarmung entwand, um erneut aufzuspringen und sich zu drehen, musste Lauren daran denken, was Jenny und Tabitha über besondere Bedürfnisse gesagt hatten. Eine solche Situation konnte sich verheerend auf die betroffenen Familien auswirken. Wie redete man mit einem Kind, das sich den ganzen Tag
um sich selbst drehte, wie fütterte man es, wie schmuste man mit ihm?
Noch einmal glitt Lauren in Jacobs Geist und sah zu, wie er sich drehte, hinfiel und wieder aufstand. Dieses Mal war sie sich noch sicherer.
»Er dreht sich, um sich mit dem Boden zu verbinden. Fast als würde er glauben, er wäre sonst zu leicht, um unten zu bleiben.«
Tabithas Miene hellte sich auf. »Zu leicht. Bingo. Wartet hier.«
Sie sprang auf und verschwand durch eine Tür, die Lauren erst jetzt bemerkte. Nur einige Sekunden später war sie mit etwas, das aussah wie eine Schwimmweste, zurück.
Da auf dem Wasser zu treiben in Laurens Augen das Gegenteil von dem war, was der Junge brauchte, machte sie große Augen. »Hast du eine Ahnung, was sie vorhat?« , fragte sie Jennie.
»Absolut nicht, aber Tabitha ist ein Genie in solchen Dingen. Du hast ihr einen wichtigen Hinweis gegeben. Ich glaube, jetzt hat sie eine Idee, wie sie Jacob helfen kann.«
Beide sahen zu, wie Tabitha ein paar Worte mit Jacobs Eltern wechselte. Dann kniete sie sich hin, zog den Jungen auf ihren Schoß, streifte ihm die Weste über die Schultern.
Fasziniert nahm Lauren wieder die Verbindung mit Jacob auf. Er war unruhig – es gefiel ihm nicht, festgehalten zu werden. Sie wollte gerade etwas rufen, als Tabitha den Klettverschluss der Weste schloss und Jacob losließ.
Jacob blieb wie angewurzelt stehen. Lauren spürte, wie Staunen in seinen Geist strömte. Er blieb unten. Er hing am Boden fest. Langsam machte er ein paar kleine Schritte, um zu sehen, ob das Wunder anhielt. Das tat es. Die Freude in ihm war strahlend wie der Sonnenschein.
Tabitha nahm sanft seine Hand und führte ihn zu seiner Mutter, die ihn hochhob und wieder an sich drückte, und dieses Mal ließ Jacob es geschehen. Singend wiegte sie sich langsam vor und zurück, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.
Jacob spürte die Bewegungen, die gemurmelten Worte und die Tränen, die auf seinen Kopf tropften. Weiche, warme Hände hielten ihn, und unter seinem Ohr klopfte es leise und stetig.
Als Tabitha wieder zu den Kissen zurückkehrte, auf denen Lauren und Jennie saßen, standen ihr ebenfalls die Tränen in den Augen.
Sie streckte Lauren die Hand entgegen. »Danke.«
Lauren wischte sich die Wangen trocken. »Was ist das für eine Weste, die Sie ihm angezogen haben? Die hat ja eine magische Wirkung gehabt.«
Tabitha lachte und schniefte. »Magie war dabei nicht im Spiel. Das nennt sich eine Gewichtsweste. Damit wiegt man circa zehn Pfund mehr als normal. Als Sie sagten, er fühle sich zu leicht, dachte ich, es könnte klappen. Manche Kinder mit sensorischen Störungen brauchen zusätzliches Gewicht, um die Schwerkraft so wie Sie und ich zu spüren. Daran haben wir vorher nicht gedacht, weil wir uns auf das Drehen konzentriert haben, nicht auf das Fallen.«
»Das ist wirklich
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