Verico Target
theoretisch jedes
Gespräch an jedem Anschluß abgehört werden konnte
– vermutlich aber nicht abgehört wurde. Das FBI war
nicht die einzige Institution, bei der Personalmangel herrschte.
Wie es schien, kam Doktor Ormandy nun doch zu der
Überzeugung, daß Doktor Lederer selber auf sich aufpassen
konnte. »Einen Augenblick, bitte.«
Es war ein langer Augenblick. Vielleicht war Lederer gar nicht im
Haus? Vielleicht hatte Cavanaugh ihr Persönlichkeitsprofil
falsch eingeschätzt, und Doktor Sandra Ormandy hüpfte
schenkelklopfend den Korridor auf und ab und lachte sich halbtot:
»Stellt euch vor, wer am Rohr hängt und unbedingt mit Mark
reden will! Die behämmerten Bundesbullen!« Vielleicht
saß Lederer zusammen mit Judy Kozinski irgendwo beim
Frühstück. Vielleicht war er schon tot.
Nein, er meldete sich. »Mister Cavanaugh?«
»Vielen Dank, daß Sie an den Apparat gekommen sind,
Doktor Lederer.«
»Ich glaube nicht, daß wir noch irgend etwas
miteinander zu besprechen haben. Ich dachte, ich hätte mich klar
ausgedrückt.«
»Ich muß Ihnen etwas zeigen. Es ist sehr wichtig, und
es hat nichts mit dem zu tun, worüber wir bereits sprachen.
Ehrenwort. Es handelt sich um eine wissenschaftliche Information, die
Sie bestimmt sehen wollen«, sagte Cavanaugh, obwohl er
wußte, daß das sicher nicht stimmte. Nicht auf lange
Sicht, jedenfalls.
»Warum kommen Sie dann nicht damit zu mir nach Hause, wie
gehabt?«
»Nein, nicht bei Ihnen zu Hause.«
Das Schweigen am anderen Ende dauerte lange.
»Zumindest vier Menschenleben hängen an dieser Frage,
Herr Doktor«, sagte Cavanaugh, indem er eine aus der Luft
gegriffene Ziffer verwendete. »An der Frage, ob Sie bereit sind,
sich diese spezielle wissenschaftliche Information anzusehen –
jetzt gleich. Das ist alles, was Sie tun müssen. Und niemand
wird erfahren, daß ich Sie besucht habe.«
Wiederum ein langes Schweigen. Cavanaugh wußte, daß er
die Möglichkeit hatte, einfach zu sagen: »Ich kann Sie auch
vorladen lassen, Doktor«, aber das wäre hier die falsche
Methode gewesen, die ganz falsche Methode. Lederer würde kein
Wort mehr sagen. Würde seinen Anwalt anrufen und kein Wort mehr
sagen. Das traute Cavanaugh ihm zu.
Plötzlich fiel ihm Jeanne Cassidy ein, die ebenso
zugeknöpft reagiert hatte, um erst Monate später die
Postkarte zu schicken.
Nur hatten sie diesmal nicht monatelang Zeit.
»Also gut, Mister Cavanaugh. Ich lasse Sie von der internen
Sicherheitswache in mein Labor führen.«
»Nicht in Ihres. In irgendein anderes, das jemandem
gehört, mit dem Sie nicht zusammenarbeiten. Möglichst in
einem anderen Stockwerk.«
Das nächste lange Schweigen. Und dann: »Ich halte das
für leicht paranoid. In dieses Gebäude hat niemand Zutritt,
der nicht dazu berechtigt wäre.«
Ach ja, dachte Cavanaugh; und all Ehre kleinen Laborratten
verwandeln sich gewiß auch in Aschenputtels Pferde…
»Geben Sie mir einfach die Nummer des Stockwerks und des Raums,
Doktor. Und dann bitten Sie Frau Doktor Ormandy – Frau Doktor
Ormandy soll das machen, nicht Sie! –, die Sicherheitsleute
darauf vorzubereiten, daß sie um zehn Uhr einen Reporter des Weekly Record aus Framingham erwartet.«
»Des – was?«
»Frau Doktor Ormandy stammt aus Framingham«, sagte
Cavanaugh und ignorierte die boshafte kleine Befriedigung, die es ihm
verlieh. Er bezweifelte, daß die Sippschaft jemanden ins
Gebäude eingeschleust hatte. Aber der Empfang unten in der
Eingangshalle konnte verwanzt sein. Und so würden sie also beim Weekly Record anrufen und entdecken, daß – aber ja
doch! – Daniel Anderson soeben auf dem Weg zu einem Interview
mit Frau Doktor Ormandy war, diesem tüchtigen Mädchen aus
dem Ort, das es so weit gebracht hatte. Cavanaugh hatte sich kein
bißchen in Piperston getäuscht; der Leutnant verfügte
tatsächlich über die richtigen Verbindungen in Bostons
westlichen Vor- und Nachbarorten, und er war ein fähiger Mann.
Als Cavanaugh ihn am Vorabend angerufen hatte, war Piperston
augenblicklich klar gewesen, wie er die Sache anpacken
mußte.
Leise sagte Lederer: »Also gut, Mister Cavanaugh. Um zehn
Uhr.«
Cavanaugh trödelte über dem Frühstück bis neun
und ging dann auf die Herrentoilette, um sich zurechtzumachen.
Schnurrbart, Kinnbart, große und etwas schiefe Nase, braune
Kontaktlinsen. Ein Bauchkissen, das seinem Gewicht fünfzehn
Pfund hinzufügte, und Schlotterhosen, die für weitere
fünf gut waren. Der Saum der Hosenbeine schwappte über die
Schuhe.
Weitere Kostenlose Bücher