Verico Target
Druckfahnen vor sich auf dem Schreibtisch ihres Vaters
und ihre eigenen Korrekturzeichen, die überflüssige
Buchstaben eliminierten, doppelte Abstände zwischen den
Wörtern verkürzten und orthographische Fehler ausmerzten.
St. Cadoc, Abt.
Verico. Cadoc. Cadaverico.
Es ergab immer noch keinen Sinn. Sollte ›Cadoc‹ für
›Cadillac‹ stehen? Und, falls ja, wie sollte jemand, der
Ben getötet hatte, über eine obskure linguistische
Verschiebung von einem keltischen Heiligen zu einer
Autozubehörfabrik Bescheid wissen? Judy hatte noch nie
gehört, daß die Mafia sich für Kirchengeschichte
interessierte.
Aber sie hatte auch noch nie gehört, daß die Mafia sich
für Biotechnik interessierte.
Und ›Gadillac‹ war die einzige Spur, die Judy hatte.
»Judy?«
»Daddy, ich muß los.«
»Häng nicht ein, ohne…«
»Sag niemandem, daß ich angerufen habe. Auch Mama
nicht. Das ist sehr wichtig!«
»Judy…!«
Sie hängte ein.
Der Taxifahrer wußte, wo die öffentliche Bücherei
von Worcester lag, aber nicht, wann sie aufmachte, und so verbrachte
Judy zwei Stunden in einer Imbißstube, versteckt hinter einer
Zeitung. Als sich die Tore der Bücherei öffneten, war sie
die erste beim Stichwortverzeichnis der New York Times. Nicht
eine einzige Eintragung von ›Cadillac‹ bezog sich auf etwas
anderes als den Wagen.
Aber das Verzeichnis der Zeitungen enthüllte, daß
Cadillac seine eigene Zeitung hatte, das Cadillac Register. Kopien bis 31. Dezember waren auf Mikrofiche vorhanden. Als Judy
den Kopf in den Leseapparat steckte, stach ihr zu allererst der
Bericht über eine Sylvia Plath ins Auge, die den Kopf in den
Backofen gesteckt hatte, um Selbstmord zu begehen.
Nichts da! Sie selbst war am Leben – und daran sollte sich
auch nichts ändern!
In Cadillac war auch etwas angesiedelt, das sich die
›Streiter des göttlichen Bundes‹ nannte, eine
Randgruppe der katholischen charismatischen Bewegung. Sie fand
deshalb Erwähnung, weil vor kurzem ein verärgerter
Ex-Soldat namens Wendell Botts gegen die in einer lagerartigen
Siedlung abgeschieden lebende Gruppe Beschuldigungen wegen
irgendeiner Sache vorgebracht hatte – und zwar in erster Linie
bei Talkshows. Die Lokalzeitung – wie die meisten kleinen
Provinzblätter von Anzeigen abhängig – schrieb so
diskret über Kriminalfälle in ihrem schönen
Städtchen, daß Judy auch nach der Lektüre keine
Ahnung hatte, was da eigentlich los war.
Die Zeitungen aus Albany waren da offener. Wendell Botts hatte
behauptet, daß in der Siedlung Menschenopfer dargebracht
wurden. Doktor Richard Stallman, der Gerichtsmediziner, hatte das
verneint. Jay Peterson, der in der Albany Times-Union schrieb,
machte Hackfleisch aus Botts. St. Cadoc fand keine
Erwähnung.
Es ergab immer noch keinen Sinn.
Aber es war alles, was sie hatte, um herausfinden zu können,
wer Ben getötet hatte.
Als der Greyhound-Bus in Cadillac ankam, war der Himmel bereits
orangefarben und golden. Der Ort lag in dem Hügelland unter den
Adirondack-Mountains, aber die Berge verbargen sich hinter niedrigen,
grimmigen Wolken. Cadillac hatte eine drei Häuserblocks lange
Hauptstraße mit Gebäudefronten aus dem neunzehnten
Jahrhundert, eine Imbißstube, drei Kirchen, eine Pizza Hut,
einen Antiquitätenladen mit einem Schaufenster voller trister
Spiegelkommoden aus der Zeit der Depression, einen Getreide- und
Futtermittelladen, einen Snowmobil-Händler und das
Globe-Hotel.
Die Halle des Globe-Hotels war nicht mehr als ein Empfangstisch im
Durchgang zur Bar. Judy trug sich als Maggie Davis ein, und der
gelangweilte Empfangschef, der eine Baseballkappe mit der Aufschrift
BUFFALO BILLS trug, merkte nicht einmal, daß sie kein
Gepäck hatte. Das Zimmer im ersten Stock war genauso abgewohnt
wie das letzte Nacht im Princess, trug seine Schäbigkeit aber
würdevoller. Das Fenstersims war aus schwerem dunklem Holz, und
die Kacheln über dem Waschbecken im Bad sahen ganz so aus, als
wären sie handbemalt. Als sie wieder nach unten ging,
überlegte Judy, daß die Buffalo Bills wohl das hiesige
Footballteam waren.
»Können Sie mir sagen, wo ich Doktor Richard Stallman
finde?«
Der Empfangschef sagte, ohne von seinen Formularen aufzublicken:
»Grove Street Nummer 56. Draußen nach links, drei Blocks
die Hauptstraße entlang, dann nach rechts. Aber er ist fast
schon in Rente. Gehen Sie besser zur Notaufnahme im
Krankenhaus.«
»Ach, es ist nur ein Oberschenkelbruch«, sagte Judy. Er
sah nicht auf.
Grove Street
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