Verico Target
Nummer 56 war ein fahles Haus in viktorianischer
Zuckerbäckergotik; es hatte ein Erkerfenster, eine breite
Veranda und ein diskretes Messingschild: DR. MED. RICHARD STALLMAN.
Judy klingelte.
»Ja?« Er war groß, silberhaarig und so
distinguiert wie sein Haus. Er hatte Cordsamthosen an, eine
Strickweste und Lederpantoffel.
»Herr Doktor Stallman?«
»Ja. Was wünschen Sie?«
»Ich bin Journalistin«, sagte sie, darauf gefaßt
›freischaffend‹ hinzuzufügen, falls er nach ihrem
Presseausweis fragte, was er nicht tat. Statt dessen machte er ihr
die Tür vor der Nase zu, endgültig und ohne den Anflug
eines Lächelns.
Judy lehnte sich gegen die Klingel und blieb in der Stellung, bis
er wieder öffnete, eiskalte Wut im Blick. Sie stemmte den Arm
gegen den Türstock. »Herr Doktor Stallman, ich weiß,
daß Sie nicht mit mir sprechen wollen. Bestimmt wurden Sie in
den letzten Monaten von einer Menge Reporter belästigt,
aber…«
»Wenn Sie nicht augenblicklich verschwinden, junge Frau, rufe
ich die Polizei.«
»… aber ich gehöre nicht zu denen. Mit mir sollten Sie sprechen. Ich komme gerade von einem Interview mit
Doktor Eric Stevens von Verico.« Sie beobachtete ihn genau.
»Ich kenne keinen Doktor Stevens. Und, ich wiederhole, wenn
Sie nicht sofort gehen, dann rufe ich die Polizei.« Die Tür
schloß sich bis zu Judys Arm. Gerade so weit, daß es
nicht wirklich weh tat. Ihre Augen hielten Doktor Stallmans Blick
fest.
Ehe sie das Risiko eingegangen war, Verico zu erwähnen, hatte
Judy das Amerikanische Ärztehandbuch beigezogen. Stallman
hatte zweiundvierzig Jahre lang in Cadillac praktiziert, und zuvor
war sein Vater Gemeindearzt hier gewesen. Stallman war mit der
Tochter eines früheren Bürgermeisters verheiratet. Sein
Sohn war Senator des Staates New York. Stallman hatte ein langes
Leben aus selbstlosem Dienst an der Menschheit und unauffälliger
Wohltätigkeit hinter sich. Er kannte keinen Eric Stevens.
Und er würde die Polizei rufen.
Judy zog den Arm zurück, und Doktor Stallman schloß die
Tür.
Langsam schritt sie die Stufen der Veranda hinab und versuchte zu
überlegen.
Zwischen den Leuten, die an Bens Tod schuld waren, und den
Streitern des göttlichen Bundes, auf deren Anwesen auch Menschen
getötet wurden – oder die dort zumindest in
ungewöhnlich hoher Zahl starben –, bestand eine Verbindung.
Darin lag die Bedeutung von ›Cadoc Verico Cadaverico‹. Aber
was für eine Verbindung war das? Robert Cavanaugh hatte sehr
bestimmt festgestellt, daß das ›organisierte
Verbrechen‹ – was für ein vager Euphemismus –
für Bens Tod verantwortlich war. Und der Mann, der Judy am
Morgen des Vortages – mein Gott, war das wirklich erst gestern
geschehen? – hatte töten wollen, der war Dollings bekannt
gewesen. Oder etwa nicht? Dollings hatte das nicht wirklich
behauptet, doch aus seinem Verhalten hatte Judy geschlossen,
daß es sich bei dem Kerl um einen Berufskiller handelte, den
das FBI bereits kannte. Sicher, Dollings war jung und sehr aufgeregt
gewesen, das hatte Judy sogar durch ihren eigenen Schock hindurch
bemerkt. Vermutlich hatte Dollings noch nie zuvor jemanden
getötet.
Und nun war Dollings tot. War seine Ermordung die Tat eines
›Profis‹? Sah so die Tat eines ›Profis‹ aus?
Judy vergrub das Gesicht in den Händen. Warum sollte sich ein
Haufen religiöser Narren – ja selbst mordender
religiöser Narren – für die Mafia interessieren? Oder
umgekehrt? Und warum sollte ein Haufen religiöser Narren einen
Wissenschaftler umbringen wollen, der sich mit Gentechnik
beschäftigt? Weil er damit irgendein religiöses Tabu
durchbrach, indem er an der Natur herumpfuschte? Ging es in die
Richtung, wo Bluttransfusionen verboten waren? In diesem Fall
arbeiteten Verico und die Streiter des göttlichen Bundes
möglicherweise gar nicht zusammen, vielleicht waren sie sogar
Todfeinde… Aber warum dann Ben umbringen, der mit keinem von
beiden zu tun hatte?
Weil Ben daraufgekommen war, welche Verbindung zwischen Verico und
der Siedlung der Streiter bestand. Bei seinem ersten Gespräch in
der Biotechfirma. Er hatte herausgefunden, was da vorging, und
dafür mußte er sterben.
Aber was ging vor? Alles, was Judy in der Bücherei
über die Streiter des göttlichen Bundes gelesen hatte,
besagte, daß es sich um eine absolut friedliche Gruppierung
handelte. Sie hielten nichts vom Krieg, sie hielten nicht einmal
etwas von Waffen. Sie predigten ein wildes Gemisch aus Frieden,
vegetarischer
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