Verico Target
noch die alten Sitten und Gebräuche
respektierten. Und die weder im amerikanischen Strafregister
aufschienen noch ihre Fingerabdrücke beim zentralen
Erkennungsdienst liegen hatten. Die bereits in Amerika geborene und
aufgewachsene Mafiosi-Generation lachte ausgiebig über die
Sizilianer mit ihren spitzigen Wildlederschuhen und den lässig
umgehängten Sakkos. Nun – war Verico möglicherweise
der Versuch einer Verbreiterung des Tätigkeitsfeldes seitens
eines dieser hochschulgebildeten, Designeranzüge tragenden
Teufelskerls um die vierzig, den der Alte, der immer noch das Heft in
der Hand hielt, kaltgestellt hatte? Egal, es blieb dennoch eine
sonderbare Wahl für einen Hoffnungsmarkt: zu unsicher, zu
esoterisch, zu langsam.
Cavanaugh trank seinen Kaffee und las den Artikel noch einmal,
diesmal, um ihn aus einem anderen Blickwinkel zu sehen, um zu
entdecken, wozu man diese Gentherapie noch verwenden könnte. Um
einen menschlichen Körper zu vergiften? Ja, natürlich, aber
wenn man das wollte, konnte man das jetzt schon tun, und zwar mit
weitaus geringerem Aufwand. Eine einfache Spritze mit irgendwelchen
Toxinen, die von den Proteinen erzeugt wurden, statt die
veränderten Zellen zu injizieren. Oder – noch einfacher
– eine Injektion mit Zyanid. Nein, da mußte noch mehr
dahinter sein…
Er fand es nicht.
Die Aufforderung zum Anlegen der Sitzgurte leuchtete auf.
Cavanaugh faltete die Zeitung zusammen und machte sich bereit
für die Landung in Boston.
Als
Cavanaugh den Ort erreichte, an dem Benjamin Kozinski getötet
worden war, hatte man den Leichnam bereits weggebracht.
Cavanaugh hatte nichts anderes erwartet. Kozinski war auf dem
Parkplatz eines Tag und Nacht geöffneten Supermarktes namens
›Stop ’n Shop‹ an der Fernstraße 135, zwischen
Natick, wo er wohnte, und Boston getötet worden. Man hatte ihm
den Schädel mit einem Hammer eingeschlagen. Das war um etwa 3
Uhr früh geschehen, und den Leichnam hatte man in ein niedriges
Gebüsch gezerrt, wo er im ersten Tageslicht, um etwa 5 Uhr 30
früh entdeckt worden war. Jetzt war Nachmittag, und der Leichnam
wartete auf seine Autopsie.
All das erfuhr Cavanaugh auf der Polizeiwache Natick von Leutnant
Piperston, dem Kriminalbeamten, dem man den Fall zugeteilt hatte,
einem sehr kleinen Mann mit Glatze und intelligenten grauen Augen. Er
sprach mit einem leichten Akzent, den Cavanaugh nicht zuordnen
konnte, und drückte sich etwas förmlich aus. Er betrachtete
Cavanaugh eingehend.
Cavanaugh sah älter aus, als er tatsächlich war; das
würde helfen. Aber wenn es um die tägliche Arbeit auf der
Straße ging, dann hatte er weniger Erfahrung, als Piperston
zweifellos annahm. Felders, ein ziemlich unverblümter
Lehrmeister, hatte Cavanaugh eingebleut, daß Bullen nichts so
sehr haßten wie Stümper, sofern es sich nicht um ihre
eigenen Stümper handelte. Wenn Sie schon was versauen
müssen, hatte Felders gesagt, versauen Sie’s
wenigstens nicht gleich nach dem ersten Kennenlernen. Heben
Sie’s sich für später auf.
»Erlauben Sie mir zu bemerken, Agent Cavanaugh«, sagte
Piperston, »daß dieser Fall hier nicht unbedingt zu jenen
gehört, mit denen sich das Justizministerium für
gewöhnlich beschäftigt. Ein Mann hält an, um sich in
einem Supermarkt Zigaretten zu kaufen, ein Junkie gibt ihm eins
über den Schädel, um ihm die Brieftasche zu stehlen –
das sieht nicht gerade nach organisiertem Verbrechen aus.«
Cavanaugh ignorierte die Einladung, ein paar weitere Informationen
loszulassen. »Hat er angehalten, um Zigaretten zu kaufen? War
Kozinski Raucher?«
»Nein.« Piperston schien keineswegs verstimmt über
Cavanaughs Ausweichmanöver. Sehr gut. Er hatte kein Interesse an
Territorialkämpfen. »Wir wissen nicht, weshalb er anhielt.
Er wurde getötet, ehe er den Laden betrat.«
»Könnte ich die Erstberichte sehen?«
»Wir haben noch keine schriftliche Ausfertigung«, sagte
Piperston ohne jeglichen Unterton; offenbar fehlte ihm die
Angriffslust so vieler kleingewachsener Männer völlig.
»Es war noch keine Zeit dazu.« Er fuhr fort, Cavanaughs
Gesicht zu studieren, als könnte er ihn allein mit seinem
bohrenden grauen Blick dazu bringen, Informationen durchsickern zu
lassen. Bei vielen Leuten funktionierte das wohl, vermutete
Cavanaugh. Leutnant Piperston schien ein guter Mann zu sein; das
konnte nie schaden.
»Kann ich die Berichte gleich sehen, nachdem sie getippt
sind?«
»Gewiß. Die Leute von der Spurensicherung haben das
denkbar Mögliche
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