Verirrt in den Zeiten
Bemerkungen — dies alles
versetzte mich in behaglichste Stimmung.
Meine Wirte fanden es selbstverständlich, daß ich hier
übernachte, und bereiteten mir in der guten Stube eine prächtige
Liegestatt.
Es ist eine alte, vielleicht üble Gewohnheit von mir, allabends
im Bette zu lesen, ja, ich kann nicht einschlafen, ohne
zuvor etwas gelesen zu haben.
Da ich keine Lektüre bei mir hatte, suchte ich in der Stube
ob ich nicht etwas zu lesen fände. Die Auswahl war recht gering:
Ein zerlesenes Gesangbuch, ein paar Jahrgänge des
Volkskalenders und ein altes, schön eingebundenes Gebetbuch.
Ich griff nach dem Gebetbuch.
Es war gedruckt im Jahre 1604. Als ich es durchblätterte,
fiel mir auf, daß einzelne Seiten am Rande mit Zeichnungen
geschmückt waren. Es waren köstliche Federzeichnungen,
bald Heilige, bald Tiergestalten, hier dämonisch-abenteuerliche
Fratzen, dort wieder liebliches Blumengewinde, das in
sorglos-verschwenderischer Fülle und doch meisterlich beherrscht
dem ehrwürdigen Texte zu entsprießen schien und
ihn liebkosend-spielerisch umrankte.
Unter jeder Zeichnung war mit säuberlichen Ziffern ein
Datum eingetragen, offenbar das Datum ihrer Fertigstellung.
Sie waren alle in den Jahren 1631 und 1632 angefertigt worden.
Ich erinnerte mich, in der königlichen Bibliothek zu Münchendas berühmte Gebetbuch des Kaisers Maximilian gesehen
zu haben, welches Albrecht Dürer im Jahre 1515 mit
Handzeichnungen geschmückt hatte. Dies hier war eine
ebenbürtige Nachbildung des Dürerschen Werks, um ein
Jahrhundert später von einem unbekannten Meister kunstreich
und liebevoll verfertigt.
Auf der letzten Seite — gleichsam als ex libris — da befand
sich eine meisterliche Kopie des Holzschnittes mit den drei
apokalyptischen Reitern. Man kennt das weltberühmte Bild:
auf hagern Rossen durch die Lüfte reitend, treiben die drei
gespensterhaften Reiter alles Volk vernichtend vor sich her.
Unübertrefflich scheint mir auf diesem Bilde das Problem gelöst,
auf eng begrenztem Raume eine unbegrenzte Menge
darzustellen.
Man erinnert sich vielleicht der einzelnen Figur hart am unteren
rechten Rand des Bildes. Es ist einer aus der vergeblich
fliehenden Menge. Während die anderen auf dem Boden liegen,
steht er aufrecht, mit rückwärts gewendetem Gesichte.
Als ich nun das Bild betrachtete, da mußte ich mir buchstäblich
die Augen reiben, denn ich glaubte das Opfer einer
Sinnestäuschung zu sein. Dieser Mann, den Dürer selbstverständlich
in der Tracht seiner eigenen Zeit dargestellt hatte,
dieser Mann trug hier auf diesem Bilde ein Augenglas und
war bekleidet mit Sakko, mit langen Hosen, Stehumlegkragen
und Krawatte! Unter dem Bilde stand als Datum: 20. Juli
1632.
Mein nächster Gedanke war, daß sich irgend jemand in
weit späterer Zeit — aber ein Künstler muß es gewesen sein! —
einen grotesken Scherz geleistet hatte und die Figur, wie nun
ersichtlich, mit der Tracht des zwanzigsten Jahrhunderts
zeichnerisch bekleidete. Ich betrachtete die Zeichnung durch
die Lupe — die ich stets, zur leichteren Entzifferung der
Handschriften, bei mir trug. Es war kein Zweifel möglich:
von einer Überzeichnung keine Spur; jene Figur war unbedingt
zur selben Zeit gezeichnet worden wie alle anderen auf
dem Bildwerk.
Diese Entdeckung erregte mich so tief, daß ich die ganze
Nacht schlaflos zur Decke starrte und erst, als draußen schon
der Morgen graute, in einen kurzen, wirren Schlummer
fiel.
Ehe ich Abschied nahm, gelang es mir, das merkwürdige
Gebetbuch zu erstehen. Ich hätte gerne auch das Zehnfache
des Preises bezahlt, den mein Wirt von mir begehrte.
Als ich am Abend Frau Büttgemeister meinen gewohnten
Besuch abstattete — sie war über mein Ausbleiben nicht wenig
besorgt gewesen —, da fragte ich sie unauffällig und ganz nebenbei,
ob Erasmus ein Augenglas getragen hätte. Was sie bejahte.
Zwölftes Kapitel
U nterdessen war die Arbeit, die mir aufgetragen worden, beträchtlich
vorgeschritten, ja, sie näherte sich ihrem Ende. Das
städtische Archiv, die Stadtbibliothek war abgetan, auch alles,
was mir die Gefälligkeit einzelner Privatpersonen zur Verfügung
stellte oder was ich sonst in den Gemeinden der Umgebung
aufgestöbert hatte.
Blieb hauptsächlich das Gerichtsarchiv. Schon zwei volle
Monate arbeitete ich daran, all die alten Aktenstücke zu lesen,
zu sichten und zu katalogisieren.
Nun aber glaubte ich am Ende angelangt zu sein. Ich hatte
ein schönes Stück Arbeit geleistet und durfte es mir wohl
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