Verirrt in den Zeiten
einsamer
Wanderer, verfallenes Gemäuer, Fledermäuse, Eulenschrei.
Nun, das war ja hier alles hübsch beisammen.
Ja, man lacht darüber in der hellen Stube hinterm Ofen.
Aber ich möchte wohl solch einen Lacher jetzt an meiner
Stelle sehen!
Ganz allein bin ich in diesem vorzeitlichen Turme, dessen
Schrecknisse ich ohne Not und ohne Nutzen ihrer Verschollenheit
entriß. Wenn jetzt plötzlich . . .?
Wenn plötzlich was? Nun mußte ich wirklich lachen.
Fremd und schauerlich hallte es zurück.
Wann wurde hier zum letztenmal gelacht? Hatte man jemals
hier gelacht, wenn nicht das Lachen des Wahnsinns, der
Verzweiflung?
Und nun sprang es mich an, stieß mir die Fäuste in den
Nacken und umkrallte meine Kehle — das Grauen. Wie ein
Kind, das seine Angst durch Lärmen zu betäuben sucht, so
schrie ich sinnloses Zeug und fuchtelte mit meinem Stocke um
mich her.
Als ich nun mit der eisenbeschlagenen Spitze des Stockes
über die Furche zwischen zwei Platten des Fußbodens fuhr,
da merkte ich, daß der Mörtel unter dem Drucke des Stockes
nachgab.
Ich strich ein Zündholz an und sah, daß es gar nicht Mörtel
war, sondern altes, steinhartes Brot, das durch den Schnee
wieder aufgeweicht worden war.
Ich stemmte den Stock in die Fuge, und die Platte lockerte
sich.
Atemlos arbeitete ich daran, den schweren Stein zu heben,
in gierigem Taumel, in rasender Angst. Denn die Nacht atmete
das fluchbeladene Leben wieder, das diese Wände einst
gesehen hatten.
Die Platte hob sich, neigte sich hinüber. Und drunter, auf
dem Grunde, halb vermodert, von ekligem Gewürm umringelt,
da lag ein Säckchen. Darinnen raschelte es wie Papier.
Ich griff danach, als wäre es ein Talisman.
Nun aber war’s mit meiner Kraft zu Ende. Ich stürzte fort,
von allen Furien gehetzt. Und hinter mir, so schien es meinen
aufgewühlten Sinnen, der ganze Chor der Nachtgesichte. Die
da gerichtet worden, die Gehenkten, die Geräderten, Geköpften,
stöhnend und heulend, als heischten sie den Fund
zurück, den ich der Finsternis entriß.
Ich lief, ich strauchelte, ich stürzte, riß mir die Hände
wund, schlug mir die Stirne blutig, bis ich, an allen Gliedern
zitternd, schweißbedeckt beim Hauswart anpochte, damit er
mich beim Tor hinausließe.
Der starrte mich an wie entgeistert, dann nickte er vielsagend
mit dem Kopfe und meinte: »Ja, ja, Herr Doktor, das
kommt davon, wenn man allein an solche Orte geht. Am
Weihnachtsabend, da bleibt man hübsch unter Menschen!«
Ja, die Mächte der Finsternis fordert man nicht ungestraft
heraus.
Frau Büttgemeister wartete schon an der Treppe, voll Unruhe.
Als sie meine noch immer ersichtliche Erregung wahrnahm,
als ich ihr von meinem Fund erzählte, da schien esbald, als hätten wir die Rollen getauscht. Während ich mich
immer mehr beruhigte und das Erlebnis fast skeptisch spöttelnd
wiedergab, wuchs Frau Büttgemeisters Unruhe zusehends,
und sie drang darauf, den Inhalt des Säckchens sogleich
zu sehen — trotz Weihnachtsbaum und trotz des
Abendessens, das längst fertig auf dem Tische stand.
Es war dies ein Beutel aus sehr fester Leinwand, oben zugeschnürt.
Darinnen lagen, in der Mitte gefaltet, einige Dutzend
Bogen Papier. Das Heftchen trug auf der einen Außenseite
in großen gotischen Lettern die Aufschrift: »UM GOTTES
WILLEN LESEN!« Es war umwunden mit einer goldenen
Kette, die ein Medaillon trug.
Mit zitternder Hand entriß mir Frau Büttgemeister das
Manuskript, sah erbleichend auf die Kette und streifte sie ab,
so daß die eng beschriebenen Blätter offen lagen.
Mit einem Aufschrei schlug sie die Hände vors Gesicht.
»Das ist die Schrift meines Erasmus. Und das ist seine Kette.
Hier im Medaillon muß noch mein Bild sein . . . Oh, meine
Ahnung . . . Das ist mein Weihnachtsgeschenk.«
Dann sank sie ohnmächtig hin.
Selbst tief erregt, erweckte ich sie mühsam zum Bewußtsein
und las.
Vierzehntes Kapitel
I ch weiß nicht, bin ich von Sinnen, oder bin ich das Opfer
eines grauenhaften Wunders. Ich will versuchen zu erzählen,
was mit mir geschah, und ich schwöre bei allem, was mir heilig,
bei meiner Hoffnung auf Erlösung, daß es Wahrheit
ist.
Ich bin geboren im Jahre 78, 1878. In welcher Zeit lebst
Du, dem diese Aufzeichnungen in die Hände fallen? Wenn
Du ein »Zeitgenosse« oder ein Kind noch späterer Zeiten bist,
so sage ich: Wilhelm I. war damals Kaiser des Deutschen
Reiches, das aus dem siegreichen Kriege gegen Frankreichneugeeint hervorging. Bismarck sein erster Kanzler.
Könnte ich
Weitere Kostenlose Bücher