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Verirrt in den Zeiten

Verirrt in den Zeiten

Titel: Verirrt in den Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Levett
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Schauder, sie haben ihren Sinn für mich
verloren, diese Worte. Ach, ich weiß nicht, bin ich von Sinnen
oder umfängt mich ein furchtbares Wunder.
Sechzehntes Kapitel
    N ein, nein, ich träume nicht, ich bin nicht irre. Ich habe es nur
vergessen. Nur dieses eine habe ich vergessen, was mit meinem
großen Plane, mit meinem kühnen Unternehmen in Verbindung
stand. Alles andre weiß ich, all mein andres Wissen
ist getreulich aufbewahrt.
    Soll ich dafür Beweise liefern? Gut. Aufs Geratewohl
irgendeine Formel aus der höhern Mathematik. Zum Beispiel:
Es ist die Rektifikation (Längenberechnung) einer Parabel
durchzuführen. Die Gleichung ist: s (die gesuchte Länge)

    Nun, dieses Integral rechne ich im Kopfe aus. Hier die Lösung:

    Oder etwas aus dem Gebiete der Physik. Man kennt die
Schwierigkeit der Kreiselgleichungen. Ich mache mich erbötig,
für einen Ozeandampfer die Kreiselmasse aus dem Kopfe
zu berechnen, um die Schiffsbewegungen des Rollens und des
Schlingerns auszugleichen.
    Derlei gibt es ja, die Ärzte nennen’s Amnesie. Ein Schlag,
ein Sturz, ein schwerer Seelenschmerz, und wir verlieren das
Gedächtnis. Oft wird nur das vergessen, was jenem
Schmerze, jenem Sturze voranging, ihn verursachte. Und oft
kehrt das Erinnern wieder. Ein Wort, ein Bild, ein Ton, und
das Vergessen weicht wie Nebel vor der Sonne.
    So ist es wohl mit mir. Ein Wort, ein Bild, ein Ton — die
Nebel werden reißen, ich werde mich besinnen, ich werde
auferwachen.
    Doch mein Bericht verlangt nach Fortsetzung. Was aus
dem Nebelmeere aufragt, will ich schildern.
Siebzehntes Kapitel
    A lle Habe war vertan. Das Haus war unterm Hammer, die
letzten Bilder wanderten zum Trödler. Düster, stummen Vorwurf
in den Blicken, umringten mich die nächtlichen Gefährten.
Nur eines war mir noch geblieben, mein Liebling, mein
Ahn Matthäus Büttgemeister. Als ich auch dieses letzte von
der Wand nahm, da funkelten — es war am hellen Tage — da
funkelten die Augen des Bildes so zornig, und seine Hände
ballten sich so drohend, daß ich nicht wagte, auch dieses zu
verschachern, und lieber hungerte.
    Hinter mir Mißraten und Enttäuschung, und vor mir Not
und Hoffnungslosigkeit. Ratlos, planlos strich ich umher,
Haß und zornige Verzweiflung in meinem öden Herzen.
    Es war im März. Weiße Wölkchen trieben auf azurnem
Grunde, in zartem Glanze leuchtete das erste Grün, und in
den Lüften atmete es Hoffnung. Allen nur nicht mir. In mir
war Nacht und Frost, ich war verstoßen.
    Irgendwie gelangte ich in einen Garten, den eine frohbewegte
Menge füllte. Ich ließ mich nieder und versank aufs
neue in mein trübes Sinnen.
    Da mußte ich aufschauen unter der Berührung eines Blickes.
Es war ein Blick aus machtvoll dunkeln Augen, aus einem
Angesicht, so düster, so zerklüftet, wie ich es nie zuvor gesehen.
    Unvergeßlich bleibt mir dieses Antlitz. Durch Traum und
Nebel und Vergessen leuchtet es in seinem fahlen Glanze.
    Wie ein Kind, das seine Tränen über einem ungewohnten
Anblick leicht vergißt, so mußte ich auf diesen Fremden starren.
In eisengrauen Locken wallten seine Haare und umrahmten
königlich das tiefgebräunte Antlitz — wie Rauhreif einen
düstern Bergwald. Unbestimmbar war sein Alter — fünfzig,
achtzig, hundert Jahre? — und seine Tracht so fremdartig wie
seine Züge.
    Sonderbar, daß er den vielen Müßiggängern ringsumher
nicht auffiel. Es war, als würden sie ihn gar nicht sehen. Undauch er schien ihrer nicht zu achten, sah nur auf mich,
mit dem müden und doch scharfen Blick eines greisen Adlers.
    In dieser frohen Menge, unter all den Unbekümmerten,
den Lachenden und Plaudernden duldete es mich nicht lange.
Ich ging hinweg, mit wildem Blick auf diese Menschen, auf
diese Welt, die sich mir so feindselig versagte. Ich zog hinaus,
dem Walde zu.
    Dort im Schatten des Gehölzes wanderte ich rastlos auf
und nieder und sann und brütete verzweifelnd, was ich nun
beginnen solle. Mich auf den ersten besten, der des Weges
käme, stürzen, ihn erschlagen und mit dem geraubten Gelde
meine Arbeit fördern? Mich schreckte nicht die Tat, nur die
Entdeckung.
    Oder all dem Jammer rasch ein Ende machen? Ja, ein Ende
machen, aber noch zuvor als Totenopfer Hekatomben
schlachten, einen Rachefeldzug führen, wie ihn die Welt noch
nie gesehn! Nicht vergeblich sollte ich all die tief verborgnen
Kräfte der Zerstörung meistern können.
    Einen Rachefeldzug führen; gegen wen, womit — ich, ein
ohnmächtiger Bettler? Zähneknirschend, in sinnloser

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