Verirrt in den Zeiten
ich zurückerobern. Nicht
durch Gebet, nein, durch Gewalt, nicht in den Himmeln, deren
trügerische Leere ich verlachte, nein, auf Erden, nicht in
der Zukunft, die ich haßte, in der Vergangenheit, die mich in
meinen Träumen lockte. Durch eine Maschine war sie mir
entrissen worden, eine Maschine sollte sie mir wiedergeben.
Ich wollte unternehmen, was noch nie zuvor ein Mensch
begann: die Zeit besiegen.
Der Raum ist überwunden; es sind die Tage nicht mehr
ferne, da wir im Weltenraum von Stern zu Stern gelangen
werden. Aber die Zeit ist unbesiegt. Sie macht den Zufall zum
Regenten unsres Lebens, das Werden straft sie durch Vergehen,
den Plan läßt sie durch die Erfüllung sinnlos werden, sie
macht das Heute zu dem Feind des Gestern, sie macht uns
sterblich. Unbesiegt ist sie.
Doch ist sie unbesiegbar? Trägt dieser Ozean kein Schiffund keine Brücke? Hat nicht der erste Mensch, der auf das
Weltmeer blickte, sich verzweifelnd abgewendet, hoffnungslos,
es jemals zu durchqueren?
Die Zeit besiegen! Den längst verlornen Augenblick erhaschen,
wiederbringen, was unwiederbringlich schien, und das
Vergangene unvergänglich machen! In einem neuen und verführerischen
Sinne erstrahlte mir das Wort des Dichters:
»Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: Verweile doch, du bist so
schön!«
Das war mein Ziel. Ihm galten meine besten Kräfte, mein
letztes, tief behütetes Erkennen.
Und nun das Rätsel, das grauenvolle Wunder: Wie ich dies
Ziel verfolgte, weiß ich nicht; ja, ich weiß nicht, ob ich es erreichte.
Ich weiß, daß ich viele Jahre, wohl reichlich über ein Jahrzehnt,
mit heißestem Bemühen nur diesem einen Plane nachhing,
daß ich ihm alles opferte, Jugendkraft und Geld und äußeres
Ansehen, daß ich Schweres litt. Bis wir zuletzt — ich und
die gute Mutter, der Vater war schon längst verstorben — in
bittrem Elend darbten. Aber welche Höhen ich durchmaß und
welche Tiefen, welche Erkenntnisse ich sammelte, welch
wechselvolle Freuden und Enttäuschungen ich zu durchleben
hatte — ich weiß es nicht, ich habe es vergessen. Wie Nebelschleier
über einer Landschaft, aus der nur hie und da ein
Baum aufschimmert, eine Felswand oder das matte Leuchten
eines ungewissen Lichtes — so breitet sich Vergessen über alle
jene Jahre. Gleich einem bunten, wirren Traum, der uns ein
ganzes reiches Schicksal durchleben läßt, voll Abenteuer,
Spannung, Mißgeschick und Aufstieg — und den man im Erwachen
schon vergißt.
Und doch sind es gerade meine Träume, die aus jenem Nebelmeer
in vielfarbigem Glanze leuchten. Agathe kam zu mir
in meinem Träumen, schweigend und ernst, in alter Tracht,
mit Reifrock, Halskrause und Haube. Immer vielfältiger
wurde der Reigen meiner nächtlichen Besucher und ihr Verweilen
immer ungestümer und immer lockender ihr Werben.Und immer mächtiger ward meine Sehnsucht nach Vergangenem,
wuchs mein Verlangen nach verjährten Zärtlichkeiten.
Irgendwo, bei Maupassant, habe ich gelesen: »Ich bin besessen
von dem Wunsche nach Frauen längst entschwundner
Zeiten, ich liebe sie von ferne. Und die Kunde der verschollnen
Zärtlichkeiten füllt mein Herz mit Trauer. O Schönheit,
Lächeln, jugendfrohes Hoffen, warum müßt ihr sterben! Wie
hab’ ich euch beklagt in langen Nächten, ihr holden Frauen
der Vergangenheit. Sehnsüchtig öffneten sich eure Arme nach
dem Kusse, und ihr mußtet sterben! Doch der Kuß stirbt nicht.
Er zieht von Mund zu Mund und von Jahrhundert zu Jahrhundert.
Die Menschen geben, nehmen ihn und sterben.
Es lockt mich die Vergangenheit, die Gegenwart erschreckt
mich und die Zukunft ist der Tod. Was je geschehen
ist, beklage ich, und ich beweine alle, die einst lebten. Festhalten
möchte ich die Zeit, bannen wollte ich die Stunde. Doch
sie verrinnt, sie nimmt von Augenblick zu Augenblick ein
Stück von mir — pour le néant de demain. Et je ne revivrai jamais.«
Wie liebliche Musik bleibt mir die holde Trauer dieser
Worte unauslöschlich im Gedächtnis. Sonderbar, daß es ein
Irrer ist, den der Dichter solche Worte sprechen läßt!
Traum und Nebel und Vergessen! Wo ist Wirklichkeit, wo
ist Erwachen? Sind jene Träume — an die allein ich mich erinnere
— Wirklichkeit, und was ich sann und schaffte, war geträumt?
Und was ich jetzt durchlebe, ist’s ein Traumbild oder
Wachen? Wenn’s Wahrheit ist, so ist dann alles Frühere ein
Traum? Und wenn das jetzt ein Traum ist, wo ist dann das
Wachen, wann, wann denn werde ich erwachen? »Früher,
jetzt und später« — o
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