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Verirrt in den Zeiten

Verirrt in den Zeiten

Titel: Verirrt in den Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Levett
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das wissen, wenn ich ein Narr wäre oder ein Betrüger?
    Von meiner Kindheit habe ich nichts Denkwürdiges zu berichten.
Mit Menschen pflegte ich wenig Umgang; allzu früh
erkannte ich ihre Niedrigkeit und Tücke. Meine Eltern liebte
ich und Gott.
    Gott sprach zu mir aus der Natur, und seine Schöpfung
sprach zu mir in Zahlen. So ahnte ich, fast noch ein Kind, den
tiefen Sinn des dunkeln Spruchs: Ό δεός άριδμητί ςει 1 )
    Die Gottheit wirkt in Zahlen. Die ewigen Naturgesetze zu
ergründen, dies fühlte ich von Anbeginn als meine Sendung —
den Menschen abgekehrt, doch nicht ihr Feind.
    Aber die Menschen, die ich fürchtete und floh, sie ließen
nicht ab von mir. Nicht die lebendigen — die längst verstorbenen.
Buntes Leben füllte meine Träume.
    Die alten Bilder, welche unsere Zimmer schmückten, erwachten
in der Nacht zu kurzem, heißem Leben. Aus ihren
Rahmen stiegen, schritten, schwebten Ratsherren, Ritter,
Mönche, Frauen, klirrend und kosend, scherzend und scheltend,
und wandelten umher, gespreizt und gravitätisch und redeten
in längst verschollenen Zungen und liebten und trogen
und haßten und litten — bis sie der graue Morgen wiederum
in ihre Rahmen bannte.
    Mir wurde dieses nächtliche Getriebe zum vertrauten Umgang,
und gar oft erwartete ich ungeduldig das Hereinbrechen
der Nacht, um zu erfahren, welche neue Kunde mir meine
Traumgefährten brächten.
    Gott liebte ich und meine Eltern. Frauenliebe war mir
fremd. Bis ich Agathe kennenlernte. Was sie mir war, läßt sich
in Worten nicht erschöpfen. Alles war sie mir. Sie war mir
Mutter, Freundin, Schwester und Geliebte. All meine Zärtlichkeit
galt ihr, ihr galten meine kühnsten, edelsten Gedanken.
Ich liebte sie bis zur Verblendung, zum Verbrechen. Undsie war dieser Liebe würdig. So klug war sie, so fromm, so
schön.
    1)   Die Gottheit wirkt in Zahlen.
    Sie mußte sterben, früh und grausam sterben. Als sie mich
nach monatelanger Trennung auf dem Bahnhofe erwartete,
als sie meinem einfahrenden Zuge in sehnsüchtiger Ungeduld
entgegenlief, die Warnungsrufe überhörend, wurde sie von
einer plötzlich daherkommenden Lokomotive erfaßt. Vor
meinen Augen.
    Mit dem Aufschrei eines Tieres, mit riesenhafter Kraft
stürzte ich mich aus dem Fenster des fahrenden Zuges. Zu ihr,
um noch den letzten Schimmer fliehenden Lebens zu erhaschen.
Ich küßte die gelähmten, blutbesprengten Hände, ich
hing an ihren Lippen, als vermöchte ich ihr meinen Lebensatem
einzuhauchen.
    Und sie ließ keinen Blick von mir. Ihr Leben war geflohen
in ihre Augen, aus denen alle Liebe mir zum letztenmal entgegenstrahlte.
Doch mir erglänzte nicht der Widerschein der
Seligkeit, ewige Vernichtung las ich aus dem verklärten
Glanze dieser Augen.
    Ich rang die Hände, faltete sie flehend, reckte sie zum
Himmel drohend: »Wenn Du bist, allgütig bist, so laß sie mir
nicht sterben!«
    Und sie sagte mit gebrochner Stimme: »Erasmus, nicht verzweifeln.
Dort gibt es ein Wiedersehen.«
    Doch als das Engelsantlitz Todesblässe überschattete, als
das süße Leuchten ihres Blicks erlosch, da beugte ich mich
über sie und rief ihr zu: »Nicht dort, Agathe, drüben gibt es
nichts. Hier auf Erden. Nicht in der Zukunft, nein, in der
Vergangenheit. Ich will dich suchen, wo noch nie ein Mensch
den andern suchte.«
    In ihre brechenden Augen rief ich’s, in den verwehten
Odem ihrer Lippen. »Hörst du mich, Agathe? Ich will dich suchen
und ich finde dich. Hier gibt es ein Wiedersehen.«
    Ich rief’s ihr zu, rief es ihr nach.
Fünfzehntes Kapitel
    M it ihr starb all meine Lebensfreude. Aus ihrem Grabe wuchs
mir Groll und Haß. Das Leben hatte seinen Sinn verloren, die
Welt war öde, und die Schöpfung war entgöttert.
    Doch mich in unfruchtbarem Schmerze zu verzehren war
nicht meine Art. Ich hatte aus dem großen Beispiel der Natur
gelernt, die Leidenschaften zu bezwingen und zu nutzen.
    Der unbeherrschte Dampf zersprengt den Kessel; gefesselt,
schleppt er Lasten, treibt er Schiffe. Die Kraft zu unserm
Handeln mögen wir der Leidenschaft entlehnen, doch sein
Ziel muß dem Gebote unsres Willens folgen. Die Feuerkraft
entflammten Pulvers gibt dem Geschosse seine Wucht, doch
seine Richtung wird ihm durch das Stahlrohr aufgezwungen.
    Rasende Sehnsucht war die Feuerkraft, die mein Unterfangen
mit dem Sturmhauch ihres Atems drängte und beschwingte,
und mit dem Stahle meines Willens, in zorniger
Verachtung aller Grenzen, suchte ich mein Ziel geradewegs
in der Unendlichkeit. Agathe mußte

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