Verirrt in den Zeiten
griff in meine Brieftasche und hielt ihnen das Lichtbild
hin.
In sprachloser Neugier starrten sie darauf, dann wichen
sie zurück, stumm, Grauen und Verwunderung in ihren Blicken.
Der erste, der sich faßte, war Matthäus Büttgemeister. Gepreßten
Tones, mit mühsamer Beherrschung sprach er: »Ihrseid kein ungeschickter Gaukler. Glaubt Ihr, daß jetzo Faßnacht
ist? jetzt ist nicht Zeit zu Faßnachtspielen!«
»Fastnachtspielen! Wer treibt Komödie, ich oder Sie? Was
ist denn das für Schauspiel aus dem Dreißigjährigen Kriege,
das Sie eben spielten?«
Ich sprach’s wie jemand, der zu seinem Traume spricht und
weiß, daß er im Traume spricht.
»Aus welchem Kriege?«
»Nun, doch aus dem Dreißigjährigen. Wenn ich Namen
nennen höre wie Gustav Adolf, Wallenstein, so kann doch
nur die Rede vom Dreißigjährigen Kriege sein. Das weiß
doch jedes Kind.«
»Dreißig . . .«
Das Wort versagte ihm, erstarb in einem heiseren Geflüster:
»So soll das Unheil dreißig Jahre währen?«
Dann sprang er auf, zornig wie jemand, der unverbürgte
böse Nachricht hört, und rief: »Nun genug der Narrenpossen.
Wenn Ihr vom Himmel herabgestiegen, wenn Ihr der
Höll’ entkommen seid, so wisset: Wir schreiben den neunten
Heumond des Jahres sechzehnhundertzweiunddreißig, und
Ihr seid zu Anspach im Hause des Ratsherrn Matthäus Büttgemeister.
Da seht!«
Mit ungestümem Drucke stieß er das Fenster auf.
Und durch das Fenster sah ich in hellem Sonnenglanze die
Häuser einer mittelalterlichen Stadt, mit Erkern, Laubengängen,
Innungszeichen. Und auf dem Markte sah ich Kaufherren,
Musketiere, Bettelmönche, Hökerinnen, Gildenmeister,
eine buntbewegte Menge, alle in der Tracht des siebzehnten
Jahrhunderts.
Nun drang es auf mich ein, nun sank es auf mich nieder,
riesengroß, beseligend, betörend und zermalmend: Erfüllung
und Verdammnis. Aufstöhnend schlug ich meine Hände vors
Gesicht und taumelte.
Dreiundzwanzigstes Kapitel
D er Maler fing mich in den Armen auf und sprach mir liebreich
zu: »Soweit Menschen Euch helfen können, wollen wir
Euch helfen. Fasset Euch und habt Vertrauen . . .«
»Und erzählet endlich, wie Ihr herkommt«, fiel der Ratsherr
ein.
»Warum Ihnen gerade das so sehr auffällt, begreife ich
nicht. Ich hätte doch beim Haustor eintreten und unbemerkt
hiehergelangen können.«
»Das Haustor ist versperrt. Auch hätte das Gesinde Euch
sehen müssen. Und letztlich hättet Ihr bei jener Tür, zur rechten
Hand, eintreten müssen. Die Tür, durch die Ihr kamt, von
der führt nur die Treppe in das obere Stockwerk, aber nicht
hinunter.«
Ich hatte dies in meinem ersten Taumel nach dem Erwachen
gar nicht bemerkt.
»Ich kann nur wiederholen, was ich sagte: Aus meiner
Stube komme ich. Ich wohnte mit meiner Mutter in diesem
Hause, welches seit Jahrhunderten unserem Geschlecht gehört.
Denn ich heiße Erasmus Büttgemeister, und Ihr seid
mein Ahn, Matthäus. Ihr seid mir wohlbekannt durch Euer
Bildnis und aus meinen Träumen.«
Ungläubiges Mißtrauen und freudige Überraschung sprachen,
in seltsamer Mischung, aus seinen Mienen. Denn
wer hört’s nicht gern, daß sein Geschlecht noch nach Jahrhunderten
besteht? Wer sieht nicht gerne seinen späten Enkel?
»Am Nachmittage — es war der fünfundzwanzigste April
neunzehnhundertundsechs — schlief ich in meiner Stube ein.
Als ich erwachte, war es mir, als hätte ich nur eine kurze
Weile geschlafen. Was dann geschah, ist Euch bekannt.«
Der Ratsherr schüttelte den Kopf: »Und derlei soll man
glauben?«
»Nicht also, wohledler Ratsherr«, fiel der Maler ein.
»Wenn’s auch ein Wunder ist, so muß es drum noch keineLüge sein. Unser Gast gleicht wahrlich keinem Lügner. Er
sagt, daß Ihr sein Ahnherr seid. Nun, stellt Euch neben ihn
und schaut doch in den Spiegel. Dann denkt Euch Euern Bart
hinweg und seine fremdartige Tracht — sagt selber, ähnelt Ihr
Euch nicht wie Zwillingsbrüder?
Und wenn er uns erzählt, er sei aus einer fernen Zeit in unsere
verschlagen — so stünde dies nicht ohne Beispiel da.
Kennt Ihr nicht die historia de septem dormientibus, die Geschichte
von den Siebenschläfern? Der siebenundzwanzigste
des Brachmonats ist ihrem Gedächtnisse geweiht. Regnet es
an diesem Tage — so sagt das Volk —, dann gibt es sieben Wochen
Regen.«
»Wohl kenn’ ich die Geschichte; noch als Knabe hab’ ich
sie im Kirchenkalender des Caspar Goldwurm gelesen. Bin
zwar kein Gottesgelehrter, aber soviel weiß ich, daß selbst die
Papisten an der
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