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Verirrt in den Zeiten

Verirrt in den Zeiten

Titel: Verirrt in den Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Levett
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nach Mitternacht, zur Stunde, da durch die Pforte aus
Horn die Schicksalsträume nahen. Mir träumte, ich schwimme
mitten in einem azurnen See. Mühelos trugen mich die
leisen Wellen und umfingen mich mit lindem Kosen. Ringsum
war alles in ein zauberhaftes, ungewisses Licht getaucht.
Es war ein köstlich-hingegebnes Schweben und Versinken.
Wenn’s ein Gefühl des Nichtseins gibt, so war es dieses.
    Das Ufer jenes märchenhaften Sees lag im Bereiche meines
Blickes. Doch wie sehr ich spähte und mich mühte, ich konnte
es nicht erkennen, ich konnte nicht gewahren, wo ich mich
befand. Spielerisch und schattenhaft und unbegreiflich entzog
es sich dem Anblick. Bald schien mir’s völlig fremd, bald seltsam
vertraut, wenn auch verschwommen unter nebelhaftem
Umriß. Es war ein täuschungsreiches Trugbild, ein Spiel,
schalkhaft und neckend; und dennoch lag in dem beharrlichen
Versagen etwas wie ränkevoller Ernst, wie düstre Drohung.
Und plötzlich überkam mich das Gefühl trostloser Einsamkeit,
hilfloser Verlassenheit in einer unbekannten Welt.
    Da erschien in steiler Höhe über mir ein Antlitz. Fern wie
die Sonne und doch furchtbar groß. Es war vermummt von
einer scharlachroten Kapuze — wie das Angesicht des Henkers.
Und ich erkannte trotz der Verhüllung, daß es das
Haupt des Juden sei. Das schreckensvolle Antlitz senkte sich
hernieder und wurde immer größer, wie ein Felsblock, wie ein
Dom, bis es die ganze Landschaft überschattet. Und wollte
just auf mich darniedersinken.
    Mit einem Angstschrei fuhr ich auf. Halb im Erwachen sah
ich noch, wie die Landschaft längs des Ufers sich entschleierte,
und ich erkannte die Türme und die Bastionen des
mittelalterlichen Anspach. Auf den Zinnen standen Agathe
und Konradin und winkten mir beschwörend, Abschied nehmend.
Siebenundzwanzigstes Kapitel
    A m nächsten Tage zeigte mir mein Wirt und Ahnherr eine
Geige. Sein florentinischer Gewährsmann habe sie ihm letztwillig
vermacht als Gegengabe für einen Ballen feinsten Brabanter
Zeugs. Der Florentiner sei kürzlich verstorben, seine
Erben übersendeten getreulich das Vermächtnis; soeben sei es
eingetroffen.
    Aus dem Begleitbrief scheine hervor, daß ein sicherer Geronimo
Amati aus Cremona die Geige gebaut. Das müsse ein
gar tüchtiger Meister sein, denn drüben der Leubelfinger, unterm
Sebaldustor, der habe eine Viola da gamba aus der nämlichen
Werkstatt und lobe sie höchlich.
    Nun sei er, Matthäus Büttgemeister, des Fiedelstreichens
unkund, habe nur zur Not gelernt, die Querpfeife zu traktieren.
Wenn ich’s verstünde und es mir Plaisir bereite, möge ich
mich mit der Geige verlustieren.
    Mit freudiger Rührung griff ich nach dem edlen Instrument.
Auch hier ein Wiedersehen. Auf dieser Geige hatte ich
bisweilen als Kind gespielt, bis auch sie den Weg der Bilder,
des Schmuckes und des andern Hausrats wanderte, ein Opfer
unseres Verfalles.
    Von allen Künsten hatte ich am leidenschaftlichsten Musik
gepflegt. Wenn man sich wunderte, daß ich, ein Forscher
und ein Rechner, es in der schwärmerischsten der Künste zu
solch ungewöhnlicher Vollendung brachte, so mußte ich mich
an Leibnizens Erklärung der Musik erinnern: Exercitium
arithmeticae occultum nescientis se numerare animi — Einegeheime Rechenübung der Seele, die da zählet, ohne es zu
wissen.
    Ich ging im Zimmer auf und ab und spielte. Beethoven,
Bach und Schumann und all die andern mir so teuern Meister,
spielte, was das Abenteuer, was die Einsamkeit, das ferne,
schmerzliche Gedenken, was die ungestümen Wünsche meines
heißen Herzens forderten. Mit süßer Inbrunst gab ich
mich den Tönen hin. Ach, sie waren ja das einzige, was mir
geblieben war aus meinem frühern Leben. Und aus der edlen
Geige tönte es wie Totenklage, wie der Jammerruf verlorener
Seelen, wie der Schmerzensschrei der Mutter, die ihr Kind
beweint.
    Wie ich so geigend auf- und abschritt und achtlos einen
Blick durchs Fenster warf, da sah ich unten auf der Straße
einen ganzen Schwarm von Hörern, Hausmädchen, Dragonern,
Häuslerinnen, Zunftgesellen, weißgelockte Greise. Und
immer neue Ankömmlinge gesellten sich hinzu, durch die
Töne angelockt und durch das seltsame Schauspiel jener
stummen Menge, die verzückten Angesichts nach oben
blickte, gleichsam durch ein unsichtbares Licht geblendet.
Hier ein paar Ratsschreiber, die Aktenrollen unterm Arm, da
ein Obrister eines Reuterregimentes, der sacht vom Pferde
steigt und, auf den Degenknauf gestützt, andächtig horcht.
Auch eine

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