Verirrte Herzen
erklären. »Ich meine, du bist eine wirklich tolle Frau. Aber zu Hause wartet auch eine bezaubernde Frau auf mich. Und ich liebe Caro.« Annes Stimme war nur noch ein Flüstern. Es war das erste Mal, dass Anne Caros Namen in Noras Gegenwart aussprach.
»Mach einfach, was dein Herz dir sagt. Ich werde auf dich warten, falls du das möchtest. Du kannst dich jederzeit melden, wann immer du willst«, entgegnete Nora. Sie hob ihre Augenbraue.
Anne nickte zaghaft. Am liebsten wäre sie zu Nora hinübergegangen und hätte sie in den Arm genommen. Aber ihr mitzuteilen, dass sie sich nicht wiedersehen sollten, sah anders aus.
Sie wandte ihren Blick von Nora ab. »Was machst du eigentlich, wenn du gerade nicht zur Krankengymnastik gehst?« fragte Anne plötzlich, um dem Gespräch eine neue Richtung zu geben. Trotz der vielen Therapiesitzungen wussten sie fast nichts voneinander. Nora hatte es bisher vermieden, etwas Privates über sich zu erzählen.
»Ich arbeite als freiberufliche Fotografin. Mal hier, mal dort, wo ich eben gerade gebraucht werde.«
»Und welche Art Fotos machst du?« hakte Anne weiter nach. Vielleicht war ein wenig unverfängliche Konversation ganz hilfreich. Aber weit gefehlt.
»Du kannst sie dir gern einmal ansehen, wenn du möchtest.« Nora lächelte ihr zu.
Dieser sinnliche Mund ließ einfach nur einen Gedanken zu. Annes Lippen öffneten sich einen kleinen Spalt. In ihrer Vorstellung küßte sie die weichen Lippen, verschmolz mit ihnen. Ein heißer Schauer lief ihren Rücken hinunter.
»Ich muss los.« Anne sprang plötzlich auf und holte ihre Jacke. Caro wartete zu Hause auf sie. Sie musste dringend los. Sie holte, krampfhaft um Lockerheit bemüht, ihr Portemonnaie aus der Handtasche.
»Hast du vergessen, dass ich dich eingeladen habe?« fragte Nora amüsiert über das Schauspiel, das Anne ihr bot.
»Äh, nein. Danke. Wir sehen uns irgendwann«, stotterte sie. Schnellen Schrittes eilte sie davon. Sie musste fliehen, brauchte Luft zum Atmen.
Eine eisige Kälte empfing sie, als sie vor die Tür trat. Anne blieb einen Moment stehen. Sie zitterte am ganzen Körper, ihr Herz klopfte viel zu schnell und ihre Lungen brannten.
Am Himmel funkelten zahlreiche Sterne.
Anne machte sich auf den Heimweg. Sie versuchte an Caro zu denken, daran, wie Caro sich anfühlte, wie Caro roch. Doch es wollte ihr nicht gelingen.
Zu Hause wollte sie nur noch ihre Ruhe haben. Die rasenden Gedanken in ihrem Kopf machten sie ganz schwindelig.
Caro saß im Wohnzimmer auf der Couch, sie hatte sich in eine Wolldecke gehüllt und lächelte ihr zu. »Möchtest du dich zu mir setzen? Wir können noch eine DVD einlegen, es ist ja noch nicht so spät.« Erwartungsvoll sah Caro zu Anne, die steif im Türrahmen verharrte.
Unsicher ging sie auf Caro zu und nahm neben ihr Platz. Sofort legte Caro zärtlich den Arm um sie, aber Anne rückte unmerklich etwas von ihr ab. »Eigentlich bin ich müde. Ich werde noch ein paar Seiten lesen und dann schlafen.« Erneut flüchtete sich Anne in eine Lüge. Sie war hellwach und sicher, dass sie die nächsten Stunden kein Auge schließen würde.
»Schade«, entgegnete Caro traurig. Dann löste sie die Umarmung und ließ Anne schweren Herzens los. Sie wünschte sich sehr, endlich wieder einmal einen gemütlichen Abend mit ihrer Partnerin zu verbringen. Aber entweder kam sie selbst spät und gestresst von der Arbeit, oder Anne entzog sich ihr. »Schlaf gut.« Caro wollte Anne einen Kuss geben, doch Anne verweigerte sich ihr und stand auf. Die Enttäuschung stand Caro ins Gesicht geschrieben.
»Du auch.« Es tat Anne weh, Caro so leiden zu sehen. Aber sie konnte gerade nicht anders, sie brauchte Zeit für sich. Sie machte sich schnell bettfertig und kuschelte sich in ihre warme Daunendecke.
Anne suchte eine bequeme Position, rutschte etwas tiefer, drehte sich zur Seite, aber sie fand nicht die richtige Stellung. Sie atmete tief durch, drehte sich wieder. Nur sehr langsam wurde sie ruhiger, und die Anspannung der letzten Stunden löste sich. Tränen stiegen in ihre Augen und liefen über ihre Wangen. Mit dem Handrücken wischte sie durch ihr Gesicht, aber das Wasser wollte nicht weniger werden. Salzige Tropfen landeten auf ihren Lippen, das Kissen bekam nasse Flecken. Leises Schluchzen und Wimmern war von Anne zu hören.
Sie vermisste die gemeinsamen Unternehmungen mit Caro, sie vermisste Caros Nähe, sie vermisste die vertraute Wärme. Doch sie konnte es im Moment nicht zulassen, von ihr
Weitere Kostenlose Bücher