Veritas
Arbeiter und des um seine Ware klagenden Gemüsehändlers die ganze Straße betäubten, erblickte ich, halb ohnmächtig zwar, aber noch willens, das Geschehen zu beobachten und zu verstehen, das Gesicht des Kapuzenmannes über mir, welcher von zwei oder drei kräftigen Passanten festgehalten wurde und mir mit seinen gelblichen Zähnen und unsteten grauen Augen immer noch zulächelte:
«Ich verwunderliche mich, Eure Illustrität hier in Vindobona zu finden, sehr lebend und zur Gänze noch.»
«Ugonio?», rief ich mühsam aus, bevor mir durch den empfangenen Schlag die Sinne schwanden.
Jäger heiliger Schätze, Scherge im Dienst der Bettlersekten, mit der ganzen Verbrecherwelt der Heiligen Stadt vertrauter Betrüger: Es war nicht das erste Mal, dass Ugonio überraschend in meinem Leben auftauchte.
Unsere erste Begegnung vor achtundzwanzig Jahren hatte in den Eingeweiden Roms stattgefunden, als ich die Bekanntschaft des Abbé Melani gemacht hatte. Ugonio war ein Heiligenfledderer oder auch Jäger heiliger Reliquien. Vor elf Jahren war ich dann erneut auf dieses bizarre Wesen gestoßen, ebenfalls bei einem Aufenthalt Attos in Rom. Damals arbeitete er für die geheimen Kongregationen der Bettler. Nicht, dass es zwischen Melani und ihm eine direkte Beziehung gäbe: Die ruchlosen Geschäfte des Abbés überschnitten sich ganz einfach mit der unterirdischen, abscheulichen Welt, die Ugonios Lebenselement war.
«Wie dumm von mir, daran hätte ich denken können», murmelte ich, als ich das Bewusstsein wiedererlangt hatte. «Ugonio ist ja aus Wien.»
Tatsächlich stammte der Heiligenfledderer aus der Hauptstadt des Reiches, und ebendarum besaß er nur so unsichere Kenntnisse meiner Sprache.
Nun hoben mich vier starke Arme auf und brachten mich zum Himmelpfortkonvent. Der Schlag, der mich zu Boden gestreckt hatte, stammte von dem Gemüsekarren. Als er umstürzte, hatte er mich mit seinem ganzen Gewicht am Schädel getroffen. Ich hörte, wie meine Helfer über das Geschehene sprachen und Ugonio beschimpften. Auf beiden Straßenseiten beobachtete eine doppelte Reihe Zuschauer, wie ich vorübergetragen wurde, angeführt von Simonis und einer Gruppe Leute, die den Heiligenfledderer umringten und ihn mit groben Stößen vorantrieben. Höchstwahrscheinlich beabsichtigten sie, Cloridia auf der Stelle zu einer Zeugenaussage zu bewegen, um Ugonio dann der Obrigkeit auszuliefern. Ich betrachtete ihn.
Sein ekelerregendes Aussehen, das Cloridia mir beschrieben hatte, war mir wohlbekannt. Seine Haut war noch immer fahl, runzelig und schlaff, die Augen grau und blutunterlaufen, die Hände verkrümmt, die Nase zerfressen, und seinen Körper bedeckte ein schmutziger Überwurf mit Kapuze. Obwohl sein Alter sich nicht bestimmen ließ, waren die Jahre auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen: Schon früher war Ugonio abstoßend, jetzt war er überdies ergraut. Doch hatte er sich eine gute körperliche Verfassung bewahrt: Um ihn zu fangen, hatten wir zu zweit hinter ihm herlaufen müssen, bis uns die Luft ausging.
Vor elf Jahren hatte sich der Heiligenfledderer die sehr mächtigen römischen Bettler zu Feinden gemacht, um dem Abbé und mir zu helfen, und musste darum aus Rom, ja, aus Italien fliehen. Noch heute sehe ich sein mit Blut verkrustetes Gesicht und die verbundene Hand, als er in die Villa Spada kam, um sich von Atto und mir zu verabschieden. Damals hatte er uns angekündigt, er werde sich hierher zurückziehen, in seine Geburtsstadt.
Ich bat darum, auf die Beine gestellt zu werden, denn ich konnte mich wieder aus eigener Kraft aufrecht halten. Dann rief ich Simonis. Nachdem mein Gehilfe sich überzeugt hatte, dass ich in leidlichem Zustande war, erklärte ich ihm, dass ich den Gefangenen kannte. Ich könne außerdem garantieren, dass dieses zugegeben einschüchternde Wesen keine üblen Absichten gegenüber meiner Frau gehabt habe.
«Seid Ihr wirklich sicher, Herr Meister?»
«Lass mich nur machen. Und schick diese Leute weg. Du sprichst gut Deutsch, erklär ihnen, dass es sich um einen Streit gehandelt hat und dass sich jetzt alles in freundschaftlicher Weise regeln wird. Ich habe nicht die Absicht, ihn anzuzeigen.»
«Ich an Eurer Stelle würde das allerdings tun … Aber gut, wie Ihr wollt, Herr Meister.»
Simonis hatte nicht wenig Mühe, die Anwesenden zu überzeugen, doch wir erreichten, dass man uns allein ließ, und konnten so das Eingreifen der städtischen Gendarmerie vermeiden. Jetzt kam die schwierigste
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