Veritas
ermorden, der ihn in Landau von der Bühne verdrängt hat. Außerdem hat der Kaiser ihn daran gehindert, militärischen Ruhm in Spanien zu erwerben, und schließlich ist er derjenige, der ihn eines Tages zwingen könnte, in Wien zu bleiben und nicht mehr zu kämpfen, also wieder Madame L’Ancienne zu werden.»
«Eines verstehe ich aber noch nicht: Wir haben zu viele Schuldige. England und Holland, den Bruder Karl, die Jesuiten, die ehemaligen Minister und Eugen. Wer von ihnen hat zugeschlagen?»
«Ich sehe auch nicht klar. Denn nur England und Holland sind mit Sicherheit am Tod des Grand Dauphin interessiert. Welchen Nutzen die anderen davon hätten, begreife ich nicht. Wir müssen die Türken im Auge behalten und herausfinden, welche Absicht der Derwisch wirklich verfolgt, wenn er mit den Köpfen seiner Mitmenschen spielt.»
«Oh, apropos! Ich hatte vor einer halben Stunde eine Verabredung mit Ugonio!», rief ich aus, als mein Blick auf die reichgeschmückte Fassade des gegenüberliegenden Hauses fiel, an deren Spitze eine herrliche blaugoldene Uhr prangte. Sie zeigte neun Uhr dreißig.
Besorgt klopfte die Schwester an meine Wohnungstür: Der Mensch, der an der Pforte nach mir fragte, sei schon einmal um Punkt neun Uhr erschienen. Sie hatte ihn nie zuvor gesehen und war in höchster Aufregung. Cloridia war nicht da, man hatte sie eilig in das Palais des Prinzen Eugen gerufen. Die Frau des Kammerherrn lag nämlich in den Wehen. Also hatte die junge Nonne den wunderlichen Besucher gebeten, später wiederzukommen.
Da dieser sich auch beim zweiten Mal geweigert hatte, Angaben zu seiner Person zu machen, fragte ich die Ordensfrau nach seinem Aussehen, und ihre kurze Beschreibung genügte, um sicher zu sein, um wen es sich handelte.
Nachdem ich vergeblich mein klägliches Deutsch zusammengeklaubt hatte, bat ich Simonis, der inzwischen mit dem Kind von der Arbeit zurückgekehrt war, der Schwester zu erklären, es gebe keinen Grund zur Sorge. Sie könne das monströse Wesen ruhig hereinlassen, es handle sich um eine mir bekannte und gänzlich harmlose Person, trotz des ungewöhnlichen Aussehens. Dann schickte ich den Kleinen zum Spielen in den Kreuzgang.
«Ich exhibiere Eurer Enormität meine ergiebigsten Lobhudeltuereien, nebst eingeschmatzten Geilanterien.» Ugonio näherte sich mit kriecherischem Gebaren, seine Stimme war gedämpft und rauchig.
Dann sah er, dass auch Atto zugegen war, und erging sich in weiteren pompösen Begrüßungen:
«Ich visioniere mit Befriedenheit, dass der Herr Abbetus bei ausgezeichlichster Rüstlichkeit ist. Um mehr Heiler als Heuchler zu sein, überhäufe ich Eure Erhabenheit mit meiner lobesvollen Anerkenntnis für eine solche Magnitudität.»
Er sah, dass Atto blind war, und äußerte sein Bedauern, wofür er eine überaus affektierte kummervolle Miene aufsetzte.
«Ich habe dich allerdings sofort erkannt», antwortete der Abbé. Er hielt sich schon das Taschentuch vor die Nase, zum Schutz vor dem widerwärtigen Gestank, der aus dem Umhang des Heiligenfledderers aufstieg.
Über der Schulter trug Ugonio einen schmutzigen uralten Jutesack, darin man einen ekelerregenden Inhalt ahnte.
«Schluss mit dem Geschwätz», gebot ich ihm schroff. «Welche Neuigkeiten bringst du?»
Die Neuigkeiten seien äußerst erfreulich, erklärte der Heiligenfledderer. Wie er bei unserer vorhergehenden Begegnung versprochen, sei er jetzt frei, mir die Natur seiner geheimnisvollen Beziehung zu Ciezeber zu erklären.
«Dann sprich.»
«Ich muss ihm eine Betrüglichkeit von grenzenlosester Rarität und Wertigkeit verliefern.»
«Das wissen wir schon», erwiderte ich eisig, «es ist ein Menschenkopf.»
Der Heiligenfledderer schien zu erstarren: Wie hatten wir das herausbekommen?
Dann grunzte er leise, wie zur Bestätigung. Die Umstände, die er darlegte und die ich im Folgenden so getreu wie möglich wiederzugeben bemüht bin, klangen überaus bizarr und unwahrscheinlich, obgleich ich sie später, als ich einige Nachforschungen durchgeführt hatte, bestätigt fand.
Der Bericht begann im Jahre 1683, während der letzten, berühmtesten Belagerung Wiens durch die Türken.
Es war der türkische Großwesir gewesen, Kara Mustafa Pascha, welcher den Angriff auf die Hauptstadt des Reiches gewollt hatte. Er hatte dem Sultan diesen Feldzug vorgeschlagen, das Heer persönlich angeführt und war vernichtend geschlagen worden. Auf ihm lag die ganze Verantwortung; am Morgen nach der Niederlage war sein
Weitere Kostenlose Bücher