Veritas
Zügel in die Hand gab, um ihn das Karrenlenken zu lehren. Ich setzte mich nach hinten, zwischen die Werkzeuge.
Allmählich schlummerte das Kind ein. Ich band es mit einem Strick an den Karren, damit es nicht herunterfiel. Simonis lenkte mit sicherer, erfahrener Hand. Seltsamerweise schwieg er. Er schien in Gedanken versunken.
Auf dem weiten Ackerland in Richtung Simmeringer Haide hörte ich nur das Knirschen der Räder und das laute Klappern der Hufeisen.
Genau genommen, dachte ich lächelnd, während ich abwesend auf das gleichförmige Panorama blickte und mich der Schläfrigkeit der Mittagsstunde hingab, saßen auf diesem Karren drei Kinder: mein Söhnchen, ich mit meiner kindlichen Statur und Simonis, der im Geiste ein Junge geblieben war.
«Wir sind angekommen, Herr Meister.»
Ich erwachte mit steifen und vom Druck der Arbeitswerkzeuge schmerzenden Gliedern. Wir befanden uns in einem großen, verlassenen Hof. Während Simonis und der Kleine abstiegen und begannen, die Werkzeuge auszuladen, blickte ich mich um. Wir waren durch ein großes Tor gekommen, dahinter erkannte ich die durch freie Felder führende Straße, die wir befahren haben mussten.
«Wir sind im Ort Ohne Namen», erläuterte der Grieche, als er meinen verschleierten Blick sah. «Jenseits dieses Bogens liegt der Eingang zum Hauptgebäude.»
Tatsächlich zeigte sich hinter einem niedrigen Diensthaus, welches von einem bogenförmigen Durchgang geteilt wurde, ein weiterer Freiplatz. Zu unserer Rechten öffnete sich eine kleine Tür in der Mauer und offenbarte eine Wendeltreppe. Als ich die Augen hob, erblickte ich zur Linken Mauern mit Zinnenkranz und zu meiner Überraschung einen sechseckigen Turm mit einem von kuriosen Fialen übersäten Dach. Alles, der Turm, das Tor, die Mauern und die Zinnen, war aus einem schneeweißen Stein, wie ich dergleichen noch nie gesehen, und er blendete meine vom Schlaf verklebten Augen.
«Von hier kommt man in die Keller hinein», verkündete mein kleiner Lehrjunge.
Er war zur Erkundung des Ortes losgerannt und vor einem weißen, halbrunden Wachtturm stehen geblieben, welcher ebenfalls ungewöhnliche Formen aufwies: eigentlich eine Art Apsis, mit der ein langgestreckter Bau begann, den man hinter dem Bogen erspähte und als das Hauptgebäude ansehen mochte.
«Gut», erwiderte ich, denn es sind justament die Keller, wo man mit der Säuberung der Rauchabzüge beginnen muss.
Ich stieg vom Karren und ging mit Simonis, der schwer an den Werkzeugen zu tragen hatte, zu meinem Sohn.
Wir traten über die Schwelle des Eingangs, welcher tatsächlich zu den Kellern zu führen schien, und stiegen eine Treppe hinab. Niedrig war die Decke mit Tonnengewölbe, mächtig die Mauern, und im Hintergrund führte eine Tür weiter nach unten. Der große Raum war vollkommen leer, aber er wirkte nicht verlassen, sondern eher unfertig, als wären die Bauarbeiten nie abgeschlossen worden.
Während meine beiden Gehilfen auf der Suche nach dem Austritt eines Rauchabzugs die Wände abtasteten, erkundete ich weiter den Raum. Vom Tageslicht geblendet, mussten die Augen sich erst an die zunehmende Dunkelheit gewöhnen, und schon stieß ich unversehens mit der Nase an etwas Kaltes, Schweres und Fettes. Instinktiv wischte ich mir übers Gesicht und betrachtete meine Fingerkuppen: Sie waren rot. Dann schärfte ich den Blick für das, was ich vor mir hatte.
Es hing an einem Seil von der Decke, und jetzt, nachdem ich dagegengestoßen, schwankte es leicht: der bluttriefende Rumpf eines Kadavers ohne Beine, Kopf und Arme, schwärzliches Blut rann daraus auf den Boden. Ein dickes, rostiges Eisen, mit dem der Körper von einer Seite zur anderen durchbohrt worden war, hielt ihn an dem Seil fest. Sie mussten es bei lebendigem Leibe gehäutet haben, dachte ich in luzidem Entsetzen, da es auch dort, wo kein Blut tropfte, von leuchtend roter Farbe war und Nerven und weißliche Sehnenstränge erkennen ließ.
Ein Grauen vor diesem verfluchten Ort packte mich, und während die Schornsteinfegergeräte mit einem tollen Klirren zu Boden fielen, schrie ich aus voller Kehle Simonis zu, er solle fliehen und den Kleinen in Sicherheit bringen, ohne auf mich zu warten.
Ich sah, wie Simonis in Blitzesschnelle gehorchte. Obwohl er nicht wusste, warum, führte er den Befehl unverzüglich aus, nahm den Kleinen auf die Schulter und stürzte mit seinen langen Beinen davon. Auch ich hoffte zu entkommen, wenngleich meine Beine alles andere als lang waren, aber
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